Spagat zwischen alter und neuer Heimat
"Lasst einig sein, lasst uns riesenhaft sein und lasst uns voller Leben sein!", ruft Ali Balkiz auf Türkisch den Zuhörern in der Straßburger Veranstaltungshalle zu. Rund 7000 Aleviten jubeln dem Vorsitzenden des größten Zusammenschlusses alevitischer Organisationen in der Türkei zu. Sein Appell zur Einigkeit ist jedem Mitglied der türkischstämmigen Glaubensgemeinschaft vertraut: Es sind die Worte von Haci Bektas Veli, der im 13. Jahrhundert großen Einfluss auf die Entwicklung der alevitischen Lehre hatte.
Aus ganz Frankreich und dem nahe gelegenen Deutschland sind Aleviten ins Elsass gekommen. Sie feiern mit einer bunten Veranstaltung das zehnjährige Bestehen der alevitischen Föderation in Frankreich (FUAF). Mit solchen Großveranstaltungen wollen die Aleviten zeigen, wie einig und lebendig ihre Gemeinschaft ist.
Schätzungen zufolge leben mehr als eine Million Aleviten in der EU, davon knapp 150.000 in Frankreich. Deutschland beheimatet mit rund 600.000 Aleviten die größte Gemeinde in Europa.
Alevitische und republikanische Werte
Die Feier in Straßburg soll das Gefühl vermitteln, eine große Familie zu sein. Zugleich zeigt das Verbandsjubiläum aber auch die zwischen Frankreich und der Türkei gespaltene Identität der Gemeinde. Einerseits sind die einstigen Arbeitsmigranten und ihre Kindern in der neuen Heimat gut integriert, wie der FUAF-Vorsitzende Durak Aslan betont. Die Mehrzahl von ihnen habe mittlerweile einen französischen Pass. Die Ideale der französischen Republik – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – sind Aslan zufolge auch alevitische Werte.
Viele Kinder sprechen nur noch gebrochen Türkisch. Deshalb werden nicht wenige der Ansprachen in Straßburg auch ins Türkische übersetzt. Allerdings ist die Glaubensgemeinschaft familiär, kulturell und emotional noch stark auf die Türkei ausgerichtet. Kein Redner in Straßburg versäumt es, die Entfaltungsmöglichkeiten für die Aleviten in der EU zu loben, zugleich aber die fehlende Anerkennung am Bosporus zu beklagen.
"Die Aleviten in Europa genießen Modernität, Demokratie und die Trennung von Staat und Religion. In der Türkei erleben sie dagegen immer noch das finstere Mittelalter", beklagt der Vorsitzende der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Europa, Turgut Öker. FUAF-Chef Aslan betont, dass es 20 Millionen Aleviten in der Türkei gebe: "Trotz ihrer großen Zahl sind sie unterdrückt." Das ist die gemeinsame Erfahrung der Aleviten in ganz Europa: Neben ihrem Glauben verbindet sie vor allem die gemeinsame Erinnerung an Jahrhunderte lange Ausgrenzung.
Ausgrenzung durch Osmanen und Türken
Die alevitische Lehre entstand im Mittelalter im Gebiet der heutigen Türkei. Das Alevitentum vereinigt islamische und nicht-islamische Elemente. So verehren die Aleviten Allah, den islamischen Propheten Mohammed und dessen Schwiegersohn Ali. Von Ali leiten sie auch ihren Namen ab, der 'die Anhänger Alis' bedeutet. Anders als sunnitische Muslime beten die meisten Aleviten jedoch nicht fünfmal am Tag. Sie gehen auch nicht in Moscheen, sondern in ihre 'Cem-Haus' genannten Gebetsstätten.
Die Scharia als islamisches Gesetz spielt für sie keine Rolle. Mehrfach wurden Aleviten im Laufe der Jahrhunderte von sunnitischen Rechtsgelehrten zu Ungläubigen erklärt und verfolgt. Heute sieht die türkische Religionsbehörde Diyanet die Aleviten zwar als Muslime an, spricht ihnen aber genau dadurch eine religiöse Eigenständigkeit ab. Cem-Häuser werden nicht offiziell anerkannt. Anders als sunnitische Vorbeter werden alevitische Geistliche in der Türkei nicht vom Staat bezahlt.
Das Feindbild AK-Partei
Alevitische Schulkinder müssen am allgemeinen Religionskunde-Unterricht teilnehmen, der aber einseitig sunnitisch ausgerichtet ist. Deshalb fordern fast alle Redner in Straßburg, dieses Fach abzusetzen. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist in den Augen vieler Aleviten eine Bedrohung. Sie unterstellen der AKP, die Türkei heimlich in einen islamistischen Staat verwandeln zu wollen. In dieser Sichtweise fühlen sich viele Aleviten durch den Versuch der Regierung Erdogan bestätigt, dass Kopftuchverbot an türkischen Universitäten aufzuheben.
Alevitische Frauen tragen in aller Regel kein Kopftuch. Kritik am laufenden Verbotsverfahren der türkischen Oberstaatsanwaltschaft gegen die AKP wird im Elsass nicht formuliert. Während die französischen Aleviten die fehlende Anerkennung ihrer Glaubensgemeinschaft in der Türkei anprangern, bauen sie in ihrer neuen Heimat eigene Strukturen auf. 32 Vereine und Verbände zwischen Rhein und Atlantikküste haben sich der Dachorganisation FUAF angeschlossen.
Das neue Cem-Haus in Straßburg liegt zwar unscheinbar zwischen Schlachthöfen und Lagerhallen, ist aber trotzdem der Stolz des Ortsvereins. Und auch von institutioneller Seite eröffnen sich den Aleviten in Frankreich neue Perspektiven: Durak Aslan zufolge laufen Gespräche über die Einrichtung eines Universitätslehrstuhls für alevitische Studien in Straßburg.
Die Tücken staatlicher Anerkennung
Bei den mehrtägigen Feierlichkeiten im Elsass wird aber auch deutlich, dass die Aleviten nicht so einig sind, wie von Verbandsvertretern immer wieder beschworen. Es gibt unterschiedliche politische und religiöse Strömungen. Bei einer Podiumsdiskussion wird der Vorsitzende der einflussreichen alevitischen Cem-Stiftung, Izzettin Dogan, scharf kritisiert, obwohl er gar nicht mit am Tisch sitzt.
Dogan hatte seine Teilnahme abgesagt. Der Vorsitzende der Cem-Stiftung arbeitet seit Jahren daran, dem Alevitentum einen Platz in der staatlichen türkischen Religionsbürokratie zu verschaffen. Bei den meisten anderen alevitischen Verbänden in der Türkei und in Europa erntet er damit Misstrauen und Ablehnung. In Straßburg wird er als Spalter bezeichnet.
Angesichts der Meinungsverschiedenheiten bedient sich auch der FUAF-Vorsitzende Aslan einer alten alevitischen Weisheit, um zur Einigkeit aufzurufen: "Der Weg ist einer, aber es gibt 1001 Arten ihn zu gehen."
Andreas Gorzewski
© Qantara.de 2008