Der Mensch im Mittelpunkt

Aleviten gelten als liberal, Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer. In der Türkei aber werden sie nicht als Glaubensgemeinschaft anerkannt. Vedat Acikgöz hat mit türkischstämmigen Aleviten in Deutschland gesprochen.

Ali, Schwiegersohn und Neffe des Propheten Muhammad
Ali, Schwiegersohn und Neffe des Propheten Muhammad

​​Auf der Bühne wird Saz gespielt, ein traditionelles Instrument, das in der Türkei und in den umliegenden Ländern weit verbreitet ist. Die Saz hat für die über 5.000 Menschen, die sich hier in Gladbeck im westdeutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen versammelt haben, eine große Bedeutung.

Das Instrument ist Bestandteil der Kultur dieser Menschen, die eines gemeinsam haben: Sie alle gehören der alevitischen Glaubensgemeinschaft an. Mit diesem Zusammentreffen in Gladbeck wollen sie an die Opfer der Massaker in der türkischen Stadt Sivas gedenken.

Sivas als Wendepunkt

Damals vor elf Jahren, am 2. Juli 1993, starben 37 alevitische Schriftsteller und Intellektuelle, als sunnitische Fundamentalisten ein Feuer im Hotel Madimak legten, in dem Besucher einer alevitischen Veranstaltung untergebracht waren. Sie waren dort zusammengekommen, um an kulturellen Feierlichkeiten teilzunehmen.

Das Massaker war ein Wendepunkt für die Aleviten meint der Vorsitzende der Föderation der Alevitischen Gemeinden in
Deutschland, Turgut Öker:

"Das Massaker in Sivas hat dazu geführt, dass die Aleviten wieder aufgestanden sind, sich organisiert und sich wieder gefunden haben. Bis zu diesem Ereignis hatten Aleviten in der Türkei und in Europa nicht das Gefühl gehabt, sich organisieren zu müssen. Aleviten waren ein Teil der demokratischen Organisationen. Aber sich unter dem Namen Aleviten zu organisieren - dieses Bedürfnis entstand erst nach dem Massaker in Sivas. Denn damals hat man gesehen, dass Aleviten bei solchen Massakern ganz alleine dastehen, ohne dass ihnen jemand die Hand reicht. Deshalb ist der 2. Juli 1993 für die Aleviten ein Wendepunkt."

Blutige Unruhen in der Türkei zwischen fundamentalistischen Sunniten und Aleviten hat es zuletzt 1995 in Istanbul gegeben. Dabei starben nach tagelangen Auseinandersetzungen 17 Menschen. In ihrer Heimat, der Türkei, werden sie nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt, sondern werden als Sunniten geführt. Von dieser faktischen Bevormundung sind sie in Deutschland verschont.

Unterschiedliche Glaubensinhalte

Im Gegensatz zu Sunniten und Schiiten leben sie ihre Religion anders aus. Nach ihrem Glauben müssen sie nicht in Moscheen beten, sondern jeder kann beten wann, wie und wo er will. Gemeinsame Gebete finden in so genannten "Cem-Gebetshäusern" statt. An den religiösen Zeremonien nehmen außer Männern auch Frauen und Kinder teil.

Aleviten betonen, dass bei ihnen die Frauen den Männern gleichgestellt seien. Sie hätten dieselben Rechte und Pflichten wie die Männer. Und noch etwas ist anders: Die Frauen sind nicht verschleiert.

Aleviten an Äußerlichkeiten zu erkennen, ist aber kaum möglich. Der wichtigste Unterschied zu strenggläubigen Sunniten oder Schiiten ist, dass sie die Scharia, das islamische Gesetz, ablehnen und dass sie Ali, den Schwiegersohn und Neffen Mohammeds verehren.

Menschen sollen sich versöhnen

Ismail Kaplan, Bildungsbeauftragter der Föderation der Alevitischen Gemeinde Deutschland, erklärt die wichtigsten Merkmale seines Glaubens so: "Wir als Aleviten stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Das heißt, die Menschen sollen sich untereinander versöhnen - und sie sollen keine Gewalt gegen andere Menschen und überhaupt gegen die Natur ausüben. Der Mensch soll versuchen, bestimmte Werte zu leben und weiterzuvermitteln: zum Beispiel die Gleichheit der Menschen.

Wichtig ist auch, dass der Mensch versucht, sich mit Gott zu vereinigen - und dass dieser Mensch Harmonie mit sich selbst und mit Gott erzielt. Diese Harmonie und diese Dimensionen sind für uns sehr wichtig. Und wenn wir das erreichen und uns damit beschäftigen - sowohl durch eigenes als auch durch gemeinsames Gebet -, dann ist es nach unserer Auffassung möglich, sich mit Gott zu vereinigen."

Genaue und offizielle Zahlen über die Anzahl der Aleviten gibt es nicht. Alevitische Verbände schätzen, dass etwa 20 bis 25 Millionen Menschen zu ihrer Gemeinschaft gehören. Die meisten von ihnen leben in der Türkei und angrenzenden Ländern. Nach diesen Schätzungen leben aber auch in Deutschland immerhin rund 700.000 Aleviten.

Vedat Acikgöz

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004