Die Feder ist mächtiger
Am Donnerstag, den 20. Oktober 2011, saß ich in Südkorea an meinem Schreibtisch und sah mir den Arabischen Frühling aus der Ferne an. Während die Aufstände wie ein loderndes Feuer auf die Region übergriffen und sich die bis dato nach innen gekehrte Wut und Unzufriedenheit gegen die institutionalisierte Unterdrückung entluden, hielt ich engen Kontakt zu meinem Vater Hasan Dhaimish. Mein Vater ist ein Libyer, dessen Prägung, Nationalgefühl und Kunstverständnis gebunden sind an den Traum von einer sozialen Umwälzung in der arabischen Welt.
Mein Vater hielt sich damals im Büro eines neu gegründeten libyschen Fernsehsenders in Qatars Hauptstadt Doha auf. Die große geografische Entfernung zwischen uns schrumpfte während unseres Skype-Gesprächs zusammen, als die schaurigen Bilder von Gaddafis verstümmeltem Körper die lokalen und internationalen Medienportale fluteten.
Zwischen Freudentaumel und blutiger Vergeltung
In diesem Durcheinander aus Freudentaumel und blutiger Vergeltung ließ mich jener surrealistische Augenblick desorientiert zurück. Dies also war die Leiche der Karikatur, die ich von Kind auf kannte. In meiner Kindheit hatte man mich über die Wirklichkeit des Mannes eher im Unklaren gelassen hatte. Mit zunehmendem Alter erkannte ich, dass es dafür gute Gründe gab.
Mein Vater wuchs in den 1960er Jahren in Bengasi auf und gehörte damit einer Generation an, die Zeitzeuge der ersten Unabhängigkeitsbewegung Libyens seit Jahrhunderten war. Der unblutige Staatsstreich Gaddafis beendete die kurze Regentschaft von Idris II. und führte zu einer politischen Spaltung, die noch heute die soziopolitische Landschaft Libyens verwüstet.
Wie viele junge Libyer, so desillusionierten die prekären Verhältnisse in Libyen auch Alsatoor, wie sich mein Vater seit damals mit Künstlernamen nennt: Dem Größenwahn Gaddafis konnte man offenbar nur durch die Flucht ins Ausland entkommen.
Alsatoors künstlerische Neigung zeigte sich schon in jungen Jahren. Sein satirischer Stil war geprägt vom politischen Klima. In den frühen 1970er Jahren machte er sich mit seinen Cartoons über Gaddafi lustig, auch wenn diese zunächst nur für ihn selbst bestimmt waren.
Aus der Heimat in die Heimat
1975 kam Alsatoor in London an. Ohne Plan und ohne Aussicht auf Ausbildung. Doch irgendwie stand er die Jahre als Asylbewerber durch.
Immun gegen alle Aufforderungen, nach Libyen zurückzukehren, strandete er Ende der 1970er Jahre in Bradford. Die nahegelegene kleine Industriestadt Burnley in der Grafschaft Lancashire im Nordwesten Englands wurde bald sein neues Zuhause. Dort verdingte er sich in verschiedenen Kellnerjobs und begegnete seiner späteren Frau Karen.
Alsatoor entfernte sich immer weiter aus der libyschen Diaspora und tauchte ein in eine Gemeinschaft, die seine Heimat werden sollte. Auf einer Reise nach London in den 1980er Jahren sah er einen arabischen Zeitungskiosk an der U-Bahn-Station Earl's Court.
"Mein Blick fiel von Weitem auf ein orangefarbenes Magazin. Ich ging hin, nahm es aus dem Ständer und stellte fest, dass es eine Publikation der libyschen Opposition war. Sie bestand lediglich aus vier Seiten. Leider ohne jegliche Kontaktangaben. Glücklicherweise lag am gleichen Kiosk auch ein hellblaues Magazin mit den gleichen Artikeln aus. Diesmal aber mit Kontaktdaten. Ich kaufte beide, nahm sie mit nach Burnley und schrieb die Herausgeber an. Als Kontaktadresse konnte ich einzig und allein die meiner Schwiegereltern angeben."
Schon kurze Zeit später stand Schwiegermutter Enid mit einer Telefonnummer in der neuen Wohnung des frischvermählten Paars. Diese Nummer sollte dem überaus charmanten, privaten Menschen, der mein Vater damals war, das Tor zur Öffentlichkeit öffnen. Alsatoor publizierte seine Arbeiten in Zeitschriften und scharte allmählich eine Leserschaft aus dem Untergrund um sich, die seinen verwegenen Verstand schätzte.
Auch nach dem Zerfall der libyschen Opposition blieb er der Sache mit unverminderter Energie treu. Trotz Familiengründung und Vollzeitjob. Viele seiner Freunde, Angehörigen und Kollegen nahmen gar nicht wahr, dass er zu einer Gruppe von Exilanten gehörte, deren Leben ständig bedroht war.
Die Stimme eines Dissidenten
Zwischen 1980 und 1987 meldete Amnesty International 25 Morde an sogenannten "streunenden Hunden"; verübt von den internationalen Todesschwadronen des Diktators. "Das libysche Volk hat die Pflicht, diesen Abschaum zu vernichten, der das Bild Libyens im Ausland beschmutzt", drohte Gaddafi. Alsatoor blieb innerhalb und außerhalb Libyens ein anonymes Rätsel, eine geheimnisvolle Person als Produkt eines raffinierten Pseudonyms und mit dem Blick für die damit verbundenen Risiken.
Mitte der 2000er Jahre und nachdem das "neue Libyen" seine Tore für den Westen geöffnet hatte, schien die Hoffnung auf ein Scheitern des Regimes ferner denn je. Der britische Geheimdienst MI6 und der US-Geheimdienst CIA tauschten damals Informationen über Dissidenten aus. Eine Reihe verdächtiger Personen wurde entführt und ohne juristische Grundlage in andere Staaten überführt, wo ihnen Folter drohte.
Ein Häftling erzählte nach der Revolution meinem Vater, Gaddafis Truppen hätten ihn zu Aufenthaltsort und Identität verhört. Trotz ausweichender Antworten hatten die Technokraten Ende der 2000er Jahre begonnen, die Telefonleitungen seiner Angehörigen abzuhören sowie Facebook-Konten und E-Mails auszuspähen.
Die Bedrohung wurde offenbar immer realer. Ich bin mir nicht sicher, ob das Pseudonym für meinen Vater zur Last wurde: War diese Figur eine Antwort auf eine politische Notwendigkeit oder das Spiegelbild seines wahren inneren Selbst? Jahre später wurde mir klar, dass keines von beidem zutrifft: Alsatoor ist kein Individuum. Es ist die Personifizierung des steten gemeinsamen rebellischen Geistes einer furchtlosen Generation von Libyern.
Die aus Libyen gegen Dissidenten gerichteten Feindseligkeiten hielten ihn nie von seiner Arbeit ab. Bis in die späten 1990er Jahre konnten seine Werke allerdings nur eingeschränkt verbreitet werden. Regelmäßige Veröffentlichungen waren auf Blogs beschränkt, wie beispielsweise Libya-Mostakbal oder sein eigener Blog.
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts öffneten sich neue Kommunikationswege. Die sozialen Medien machten es leicht, schnell auf die stete Metamorphose der politischen Landschaft zu reagieren und täglich Tausende von Menschen zu erreichen.
Der Traum von einem emanzipierten Libyen
Dissident zu sein verlangt ein hohes Maß an Beharrlichkeit und Immunität gegen den Versuch, persönliche Überzeugungen und politische Ideale zugunsten von Kompromissen aufzugeben. Es kommt immer wieder vor, dass Alsatoors spöttischer Geist von außen auf die Probe gestellt wird.
2013 beschwerte sich der Allgemeine Nationalkongress – also die damals höchste Legislativbehörde Libyens – mehrfach und nachdrücklich über Alsatoors Attacken auf einflussreiche Parlamentarier. Zu dieser Zeit lud uns ein hochgestellter Abgeordneter in sein Hotel in Doha zu einem informellen Gespräch ein.
Bevor Alsatoor den Raum betrat, bemerkte er einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz, die ihn auf einen Hinterhalt schließen ließen. Er vermutete, dass dies etwas mit den vorausgehenden Beschwerden zu tun haben könnte. Wir verließen das Hotel unbeschadet.
Der rebellische Geist von Alsatoor ist immun gegenüber Zensur. Das mag sich finanziell nicht auszahlen, ist aber der Schlüssel zu persönlicher Erfüllung und politischer Entschlossenheit. Mehr als fünf Jahre, nachdem Bengasi sich aus der Gewalt Gaddafis befreien konnte, hält der Kampf um Sicherheit und Stabilität immer noch an, nährt die bittere Vision meines Vaters und befeuert seinen Traum von einem emanzipierten Libyen.
Kraft seines provokativen, resoluten künstlerischen Ausdrucks durchdringt Alsatoor den Schleier, der die harte Wirklichkeit im libyschen Alltag umgibt, und zerrt libysche Politiker ans Licht der Öffentlichkeit. Eine Öffentlichkeit, die sie durch gewaltsame Zensur unterdrücken wollen.
Vor fünf Jahren glaubte ich in meiner Naivität, Alsatoor habe seine Aufgabe erfüllt. Jetzt weiß ich, dass diese spöttische, bedrohliche Figur erst dann in den Ruhestand geschickt werden kann, wenn Bengasi den Menschen zurückgegeben wird. Bis dahin wird die Feder die Waffe eines engagierten politischen Dissidenten bleiben, der damit unter Beweis stellt, dass in dieser Zeit des postrevolutionären Terrors die Feder mächtiger ist als das Schwert. Oder, wie im Falle Libyens, mächtiger als die Bombengürtel der Selbstmordattentäter.
Sherif Dhaimish
© Qantara.de 2016
Übersetzung aus dem Englischen von Peter Lammers