Einsamer Streiter für die gute Sache
Weniger bekannt als das 1975 verfasste "Grüne Buch" zum Thema good governance à la Gaddafi ist das 2003 erschienene Büchlein "Isratin – Das Weiße Buch", das sich als Lösung des Nahost-Problems versteht. Isratin ist eine Verquickung von "Israel" und "Filastin" (arabisch für Palästina). Die Bezeichnung "Das Weiße Buch" lehnt sich an historische "Weißbücher" zu Palästina an. Es erschien in einem libyschen Staatsverlag (48 Seiten in Großdruck) und ist im Internet auf Gaddafis Homepage mittlerweile in 15 Sprachen abrufbar (darunter Hebräisch).
Gaddafi weist in der Einleitung in seiner schon aus dem Grünen Buch bekannten Bescheidenheit darauf hin, dass "jeder von diesem Buch abweichende Vorschlag in jeder Weise ungeeignet" wäre. Doch wer Gaddafi bis anhin als Unterstützer militanter palästinensischer Gruppierungen kannte und erwartet, der Autor würde einen bewaffneten Kampf gegen Israel propagieren, liegt falsch. Nein, Gaddafi hat Verständnis für den Zionismus!
Implizite Anerkennung Israels
Der Verfasser macht in "Isratin" zunächst einen Schwenk ins Alte Testament, um zu belegen, dass Palästina historisch von vielen verschiedenen Völkern bewohnt wurde. Daher gelte: "Historisch gesehen kann niemand behaupten, das Land gehöre ihm allein. Dies wäre eine reine Behauptung. Es besitzt zudem auch keine Gruppierung lediglich Anrecht auf einen Teil Palästinas unter Ausschluss des Restes." Dass die Gründung eines jüdischen Staates auch auf europäischen Antisemitismus zurückzuführen war, gesteht Gaddafi zu.
Doch auch wenn Palästina, so der Autor, nicht notwendigerweise das Land gewesen sei, in dem diese Staatsgründung zu vollziehen war, fordert er in seinem Buch implizit die Anerkennung der Existenz des Staates Israel – auch wenn er vom "so genannten Staat Israel" spricht. Hat Gaddafi eigentlich etwas gegen Juden? Nein, würde man sagen, wenn man liest: "Die Juden sind eine glücklose Gemeinschaft. Sie erlitten seit alters viel Unheil von Seiten der Herrscher, von Regierungen und von anderen Völkern."
Doch Gaddafi kennt auch den Grund dafür: "Es ist dies der Wille Gottes, wie er im Koran erwähnt ist, seit der Zeit des ägyptischen Pharaos und des Königs von Babylon, über Titus und Hadrian bis hin zu den englischen Königen wie Edward I. (…) Sie waren allen Arten von Unterdrückung durch die Ägypter, die Römer, die Engländer, die Russen, die Babylonier und die Kanaaniter ausgesetzt. Dazu kam das, was ihnen unter Hitler angetan wurde." Gott wollte es eben so. Zwischen Arabern und Juden aber, so Gaddafi weiter, bestehe "keinerlei Feindschaft". Die Juden hätten historisch immer "in Frieden und Freundschaft" mit den Arabern gelebt. Bis 1948, könnte man ergänzen, auch in Libyen.
Gaddafis Verteidigung des Zionismus
Gaddafi ruft sodann die Vorschläge britischer und anderer Persönlichkeiten aus den dreißiger Jahren in Erinnerung, in denen Vorschläge für einen Gesamtstaat Palästina unter Einschluss von Muslimen, Christen und Juden, gemacht wurden und zitiert pazifistische Stimmen der zionistischen Bewegung jener Zeit, die vor einer Teilung Palästinas warnten. Überraschenderweise schlägt er jedoch kurz darauf einen Bogen zu den chauvinistischen Äußerungen des ehemaligen Mossad-Chefs Meir Amit, der jede Gründung eines palästinensischen Staates als Gefahr für Israel verwarf, und macht sich die Ansichten weiterer israelischer Hardliner zu eigen. Ein israelischer Brigadegeneral wird dahingehend zitiert, dass die Westbank als potenzielles palästinensisches Staatsgebiet den lebenswichtigen israelischen Küstenstreifen überrage. Demzufolge sei dort ein gegnerischer Staat eine unzumutbare Bedrohung Israels. Dazu komme nach Oberst Meir Bail ein "historisches" und "heiliges" israelisches Anrecht auf die Westbank.
Flucht und Vertreibung ein "Missverständnis" Weiter liest man: "Die Verwerfung der Idee eines Gesamtstaates war der historische Fehler, der in die gegenwärtige Tragödie geführt hat. (...) Die Aufteilung des Landes ist fehlgeschlagen", so Gaddafi, und soweit möchte man ihm zustimmen. Gaddafi übernimmt jedoch folgende Meinung eines "zionistischen Strategen und Professors" namens Harkabi: "Die Zustimmung der PLO zu einem palästinensischen Staat ist lediglich eine Taktik, um Rechnungen mit Israel zu begleichen. (…) Die Annahme eines Staates in der Westbank und im Gazastreifen bedeutet nichts anderes als die Wiederaufnahme des Kampfes zu einem späteren Zeitpunkt."
Was also bietet der Palästinaexperte Gaddafi den Palästinensern, denen er offenbar misstraut, an? Ganz einfach: "Ein einziger Staat für Palästinenser und Juden – Isratin". Dies bedeute auch das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, allerdings hält Gaddafi die Flucht der Palästinenser aus ihrem Land im Jahre 1948 für eine Überreaktion und ein Missverständnis: Es sei eine "unwahre Behauptung", dass Israelis gewaltsam Palästinenser vertrieben hätten. Gaddafi bestreitet in diesem Zusammenhang sogar ausdrücklich das vielfach dokumentierte Massaker von Deir Yassin. Aber, so folgert der Verfasser: "Dies ist positiv zu bewerten, da es bei der Lösung des Problems hilfreich ist. Denn es bedeutet, dass die Juden die Palästinenser nicht hassen, sie aus ihrem Land Palästina nicht vertreiben wollen und sie auch nicht, wie gestreut wurde, zu töten beabsichtigt hatten. (…) Vielmehr waren es die nicht-palästinensischen Araber, die Palästina angegriffen und den Juden den Krieg erklärt hatten."
Gaddafis romantische Visionen
Im letzten Teil seiner Ausführungen taucht der Experte die Situation im Nahen Osten in ein geradezu romantisches Licht: Er behauptet, Israelis und Palästinenser hätten sich gut aneinander gewöhnt und bereicherten sich gegenseitig. Wieder macht er sich das Zitat eines von ihm selbst als "Zionisten" bezeichneten Herren zu Eigen: "Von Jahr zu Jahr wachsen beide Bevölkerungsgruppen immer enger zusammen. Dieses Zusammenwachsen erfolgt einerseits durch die jüdische Besiedlung in der Westbank und in Gaza, andererseits durch die starke Zunahme arabischer Arbeitskräfte in ganz Israel." Landraub und Hungerlöhne sollen nun also Brüderlichkeit sein. Gaddafi erklärt den beiden Völkern, dass sie eigentlich Freunde seien. Sie bräuchten jetzt nur noch einen gemeinsamen Staat. Doch Gaddafi ist nicht nur Romantiker, er besitzt auch jugendlichen Schwung: "Man sollte nicht mehr auf die Stimmen der alten Garde und die Mentalität des Zweiten Weltkrieges hören, sondern auf die Stimme der Jugend, der Generation der Globalisierung und der Zukunft. Es ist die alte Mentalität, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen hat."
Abschließend heißt es im "Weißen Buch": "Bereits seit 1967 besteht die Situation eines einzigen "isratinischen" Staates. Attentate wurden immer nur von außerhalb dieses Staates verübt. (…) Dies ist ein klarer Beleg für die Erfolgsaussichten eines vereinigten Staates Isratin." Und sein Buch ist ein klarer Beleg dafür, dass Gaddafi zwar ohne Bezug zu Fakten schreibt, sich aber berufen fühlt, auch zu Problemen außerhalb seines Reiches "endgültige Lösungen" auf wenigen Seiten anzubieten. Dazu kamen im Lauf der Jahre verschiedene politische Essays zu Themen wie Korea, Kurdistan, Kaschmir, die UNO oder den möglichen EU-Beitritt der Türkei (Gaddafi: Sie soll lieber nicht beitreten, das würde Europa islamisieren!), sowie eine kleine Sammlung von "Geschichten". Dass niemand seine Ideen würdigt, ficht Gaddafi offenbar nicht an.
Günther Orth
© Qantara.de 2011
Dr. Günther Orth ist Islamwissenschaftler und Literaturübersetzer aus dem Arabischen.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de