Fristverlängerung nicht ausgeschlossen
Eine Frage treibt derzeit die politische Klasse Algeriens um: Was wird aus dem Amnestieangebot an noch im Untergrund befindliche, radikale Islamisten, die zukünftig ihre Waffen niederlegen?
Ein Gesetz, das am 28. Februar dieses Jahres in Kraft trat, sah eine solche Amnestie vor – begrenzte ihre Gültigkeit aber auf sechs Monate. Das bedeutet, dass noch bewaffnet kämpfende Islamisten vor dem 31. August ihre Waffen niederlegen mussten, um unter die Amnestieregelung fallen zu können.
Danach sollten Polizei und Armee den "Unbelehrbaren", die in ihren Unterkünften in den Bergen östlich von Algier blieben, zu Leibe rücken.
Ähnlich war es nach dem "großen" Amnestiegesetz vom Juli 1999 gewesen, infolge dessen damals – am Ende der "heißen" Phase des algerischen Bürgerkriegs - über 6000 bewaffnete Islamisten ihren Kampf einstellten. Durch das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche gewann die algerische Staatsmacht ab dem Jahr 2000 die Hoheit über große Teile des Staatsgebiets zurück.
Ernüchterndes Ergebnis
Die Resultate der diesjährigen Amnestieinitiative scheinen jedoch weitaus ernüchternder zu sein. Sicher, es gibt heute auch weitaus weniger bewaffnete Islamisten in Algerien als noch zu Anfang dieses Jahrzehnts.
Ihre Zahl wurde vor einem Jahr auf rund 1000 geschätzt. Dennoch wirkt das Ergebnis des jüngsten Amnestiegesetzes auf viele algerische Politiker und Beobachter ernüchternd.
Als Ende August dieses Jahres in Algier eine (vorläufige) Bilanz nach Ablauf der sechs Monate gezogen wurde, war von 250 radikalen Islamisten die Rede, die ihre Waffen niedergelegt hätten. 800 bewaffnete Islamisten seien aber nach wie vor im Untergrund. Sie gehören überwiegend zur "Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf", dem GSPC.
Und Innenminister Yazid Zerhouni gab am 3. September vor der algerischen Presse zu Protokoll, dass die Sicherheitskräfte binnen eines Jahres "500 Terroristen getötet oder gefangen genommen" hätten.
Diese Zahlen bedeuten aber nicht nur, dass die Mehrzahl der noch im Untergrund kämpfenden Islamisten ihre Waffen nicht niederlegen möchte. Sie sind vor allem ein Anzeichen dafür, dass diese Gruppen nach wie vor neue Kämpfer aus ihrem Umfeld rekrutieren können.
Denn die Gesamtzahl der Ausgestiegenen, der weiterhin Kämpfenden und der Getöteten ist höher als die vor einem Jahr angegebene Gesamtzahl der Angehörigen des islamistischen Untergrunds.
Bewaffnete Anschläge
Ein harter Kern der im Untergrund verbliebenen Islamisten machte unterdessen in den letzten Tagen durch bewaffnete Aktionen klar, dass er nicht aufzugeben gedenkt.
Am Abend des 29. August, kurz vor dem offiziellen Auslaufen der Frist, starben zwei Polizisten und ein Geschäftsbesitzer bei einer Schießerei mit dem GSPC in der Innenstadt von El-Kseur (in der Nähe von Béjaïa).
Am 6. September wurde ein Bombenattentat auf den Chef der Sicherheitskräfte von Beni Douala, in der Nähe der Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou, vereitelt. Im Stadtzentrum von Tizi-Ouzou wurden am selben Tag zwei mutmaßliche bewaffnete Islamisten erschossen.
Ideologisches Vakuum
Ursächlich für die bisher relativ geringen Auswirkungen der Amnestieinitiative dürfte unter anderem sein, dass außerhalb der islamistischen Gruppen ein ideologisches Vakuum herrscht.
Seitdem sich die wirtschaftliche Situation aufgrund des gestiegenen Rohölpreises gebessert hat, gehen viele Menschen ihren Geschäften nach. Eine politische Diskussion findet kaum statt und wird durch das immer stärkere Präsidialregime in den letzten Jahren auch zunehmend erstickt.
Politische Alternativen, die eine Anziehungskraft entwickeln könnten, scheint es außerhalb des Islamismus kaum zu geben – auch wenn dieser, aufgrund der Bluttaten in den 90er Jahren, in den Augen vieler Algerier ebenfalls diskreditiert ist. An seine Stelle ist aber keine andere Utopie, kein anderer Hoffnungsträger getreten.
Hinzu kommt, dass den Ausgestiegenen kaum soziale Perspektiven winken – auch wenn einige ihrer früheren Chefs dank großzügiger staatlicher Unterstützungszahlungen eine gute soziale Position oder gar eine wirtschaftliche Karriere ansteuern konnten.
So etwa der frühere Chef der "Islamischen Rettungsarmee" AIS, Madani Mezrag, der eine Mineralwassermarke namens Texanna lancierte. Texanna heißt der Ort in Nordostalgerien, im Hinterland der Küstenstadt Jijel, wo bis 1999 das ostalgerische Hauptquartier der AIS lag.
Aber viele der "einfachen" Mitglieder der früheren bewaffneten Gruppen gehören in sozialer Hinsicht zu den Verlierern. Ihre berufliche (Wieder-)Eingliederung fällt schwer.
Fristverlängerung für Islamisten?
Um die jüngste Amnestieinitiative aus ihrer scheinbaren Sackgasse heraus zu bringen, sind wesentliche Teile der politischen Klasse Algeriens dazu übergegangen, eine (begrenzte oder unbegrenzte) Verlängerung der Frist zur Wahrnehmung des Amnestieangebots zu fordern.
Der Chef der "Nationalen Befreiungsfront" (FLN), Abdelaziz Belkhadem, der im Frühsommer zum Premierminister nominiert wurde und als islamisch-konservativer Nationalist gilt, hat diese Debatte im August lanciert. Ihm folgten zahlreiche Kräfte aus dem algerischen Establishment.
Die nationale Organisation von Veteranen des Unabhängigkeitskriegs und ihrer Angehörigen, eine mächtige Lobbyvereinigung, sprach sich beispielsweise für diese Idee aus. Ähnlich die legalen islamistischen Parteien, die als relativ moderat gelten, wie die "Nationale Reformbewegung" MRN.
Ob die Frist nun verlängert wird oder nicht, bleibt derzeit ungeklärt. In seinem ersten Auftritt nach seiner mehrwöchigen rätselhaften – möglicherweise krankheitsbedingten - Abwesenheit ließ Präsident Abdelaziz Bouteflika sich am 4. September nicht darüber aus.
Doch sein Innenminister Yazid Zerhouni ließ am Vortag in der Öffentlichkeit durchblicken, dass die Chance auf eine Amnestie auch weiterhin gelten werde. "Wenn jemand sich ergeben will, soll man zu ihm sagen: Nein, kehr in den Untergrund zurück?"
Damit hat er zwar nicht unmittelbar ausgesprochen, wohl aber deutlich signalisiert, dass ehemalige islamistische Kämpfer auch künftig unter das Amnestieangebot fallen können.
Bernhard Schmid
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