Die Kraft der Ruhe
Anouar Brahem lächelt vieldeutig. Er wisse nicht, warum viele Leute davon ausgingen, dass er in Paris lebe. Schließlich wohne er, von einem kleinen Intermezzo abgesehen, von jeher in Tunis. Aber das habe auch sein Gutes, denn auf diese Weise bleibe er von den anstrengenden Seiten seines Erfolges, dem Presserummel und den Pflichten als öffentliche Person, weitgehend verschont.
Widerstand gegen Einflüsterungen der Gegenwart
Brahem liebt die Zurückgezogenheit, sie ist eine der Voraussetzungen seiner Kunst. Denn seine Musik braucht den langen Atem, um zu reifen. Sie widersteht den Einflüsterungen der sich beschleunigenden Gegenwart zugunsten einer inneren Stärke, die Kraft und Offenheit vermittelt. Heutzutage ist jeder ein Botschafter. Es ist das Zeitalter der wahren oder selbsternannten Spezialisten und die Fernseher und Terminals tragen deren Meinungen in die Wohnzimmer dieser Welt. Anouar Brahem widerstrebt diese postmoderne Form der Oberflächlichkeit, besonders dann, wenn sie sich auf die Kunst bezieht.
"Im Westen hat keiner eine Ahnung von arabischer Musik", meint er und beeilt sich hinzuzufügen: "Bei uns allerdings auch kaum jemand". Dann erzählt er von Klischees und vorgefassten Meinungen, von denvielen Phänomenen, die über einen Kamm geschoren werden. Und davon, dass man eigentlich ein Leben lang brauche, um eine ungefähre Vorstellung vom Reichtum der arabischen Klangkultur zu bekommen. Natürlich ist auch diese Feststellung ein Topos, doch sie hat für Brahem eine tiefere Bedeutung. Denn Musik braucht Zeit. Sie ist eine kostbare Pflanze, die langsam wächst, und er ist der Gärtner, der ihr beistehen kann, eines Tages zu erblühen. Das erfordert Umsicht und Zurückhaltung.Inzwischen gibt es Phasen, in denen Brahem seine Oud mehrere Wochen, manchmal Monate nicht mehr anrührt. Er braucht diese Pausen, um Luft zu holen, angesichts der vielen Konzerte, die er als einer der angesehenen Meister seines Instruments weltweit spielt. "Ich möchte nicht, dass das falsch verstanden wird. Aber ich bin froh, wenn ich nicht auf der Bühne stehen muss", räsoniert er, wieder mit vieldeutiger Miene und kommt noch einmal auf sein Refugium zurück, das ihm die Möglichkeit des Rückzugs gibt. Dabei gibt es kein Rezept, nach dem seine Kompositionen heranreifen.
Instrumentelles Wechselspiel
Das Album "Le Pas Du Chat Noir" (2003) zum Beispiel entstand zunächst am Klavier, als Reflex auf die intensive und von vielen neuen Eindrücken geprägte Tournee-Zeit gemeinsam mit dem Kontrabassisten Dave Holland und dem Klarinettisten John Surman, die der Veröffentlichung von "Thimar" (1998) folgte. Die Oud kam erst gegen Ende des Projektes ins Spiel, ebenso das Akkordeon, das dem Album die besondere Farbe gab.
Im Fall von "Le Voyage de Sahar" wiederum entschied Brahem sich für einen anderen Weg: "Ich neige eigentlich dazu, für jedes Projekt eine neue Besetzung zu wählen. Ist eine Aufnahme einmal abgeschlossen, dann ist sie das eben auch. Die Stücke von 'Le Voyage de Sahar' habe ich daher zunächst solistisch für die Oud geschrieben, ohne genaue Vorstellungen von ihrer späteren Klanggestalt zu haben. Als ich aber mit François und Jean-Louis probte und wir einige von den neuen Kompositionen gemeinsam ausprobierten, stellten wir fest, dass die Besetzung mit Klavier und Akkordeon sich weiterhin als spannend herausstellte. Also habe ich mit meinem Vorsatz gebrochen und wir sind noch einmal gemeinsam ins Studio gegangen."
Es war eine gute Entscheidung. Denn man hört deutlich die Veränderungen, die die zahlreichen Konzerte im Anschluss an "Le Pas du Chat Noir" bewirken. Brahem und seine beiden Mitspieler François Couturier am Klavier und Jean-Louis Matinier am Akkordeon harmonieren inzwischen auf eine Weise, die der Musik zum einen eine ungewöhnliche Selbstverständlichkeit und melancholische Gelassenheit verleiht.
Pan-mediterrane Klangmischung
"Le Voyage de Sahar" orientiert sich aber auf der anderen Seite auch deutlicher an den individuellen Erfahrungswelten der Beteiligten. Matiniers südfranzösische Folklore, die Debussy-getönten Klavier-Moderne Couturiers, der arabisch-andalusische Stil- und Farbenreichtum Brahems verbinden sich zu einer pan-mediterranen Klangmischung, die aus der Gleichberechtigung der einzelnen Stimmen die Qualität der gemeinsamen poetischen Wirkung abzuleiten versteht. Auf diese Weise ist seine Musik zugleich ruhig und fließend, vielgestaltig und kompakt, traditionsbewusst und offen. Sie ist eine Kunst, die Vorbilder hat, aber keine Dogmen braucht, und damit eine der möglichen Annäherungen an das, was Brahem unter kultureller Toleranz versteht.
Ralf Dombrowski
© Qantara.de 2006