Erinnerung an Toleranz und Vielfalt
Die Steine der Alten Kathedrale Sé Velha von Coimbra aus dem 12. Jahrhundert strahlen in der untergehenden Sonne eines lauen Sommerabends. Schwalben umschwirren das schlichte Gebäude. Touristen stehen Schlange, um das romanische Monument in Portugals drittgrößter Stadt zu besichtigen.
Das Portal der Nordfassade der Kathedrale mit seinen drei Stockwerken lockt viele Besucher an. Gleich daneben verbirgt sich etwas Einzigartiges, aber weit weniger Auffälliges: Eine arabische Inschrift an einem der ältesten und bedeutendsten römisch-katholischen Gebäude des Landes.
Die nur 60 cm breite Inschrift liegt so hoch oben, dass sie meist unbemerkt bleibt. Die in einen Stein gemeißelten und im Laufe von acht Jahrhunderten verwitterten arabischen Buchstaben würden die meisten Passanten ohnehin nicht lesen können.
Alois Richard Nykl, ein Sprachwissenschaftler und Arabist, der die Alte Kathedrale im Sommer 1940 besuchte, übersetzte die Inschrift wie folgt: "Ich schrieb (dies) als dauerhaftes Dokument meines Leidens; meine Hand wird eines Tages vergehen, aber Größe wird bleiben.“
Die Entstehung der Inschrift wird auf die Zeit des Baus der Kathedrale datiert. Schon vor Nykl hatten andere Forscher die Inschrift beschrieben. Nykls Interpretation ist allerdings die am häufigsten zitierte.
Finanziert wurde der Bau der Kathedrale von Portugals Begründer und erstem König Alfonso Henriques (Alfons I. etwa 1109 - 1185). Fertiggestellt wurde sie im späten 12. Jahrhundert, als Truppen des portugiesischen Königs noch gegen die als Mauren bezeichneten muslimischen Machthaber auf der Iberischen Halbinsel kämpften. Zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert beherrschten die Mauren große Teile des heutigen Portugal. Im Arabischen wurde die Region Al-Andalus genannt.
Die muslimische Herrschaft in Coimbra währte mit Unterbrechungen bis zum Jahr 1064. Dann wurde das Gebiet von den Truppen des christlichen Königs Ferdinand I. von León erobert. Später wurde Coimbra in die Grafschaft Portugal eingegliedert. 1179 erkannte die katholische Kirche Coimbra als Hauptstadt des neuen Königreichs Portugal an.
Joel Sabino, ein Historiker, der in der Kathedrale als Denkmalpfleger und Fremdenführer tätig ist, hat sichtlich Mühe, den Besuchern zu erklären, wie die Inschrift über 800 Jahre lang erhalten bleiben konnte. Schließlich spielte die sogenannte Reconquista, also die "Rückeroberung“ der von den Muslimen beherrschten Regionen auf der Iberischen Halbinsel, eine zentrale Rolle in der Ausbildung der nationalen Identität in Portugal und Spanien.
Die Entstehung der portugiesischen Identität
Im Jahr 1492 eroberten die katholischen Könige Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón das letzte muslimische Königreich Granada auf der Iberischen Halbinsel. Die "Rückeroberung“ der Iberischen Halbinsel war damit abgeschlossen, Spanien und Portugal wurden rein christliche Königreiche. Unter den neuen Herrschern wurden später Juden und Moslems aus der Stadt vertrieben oder zwangsumgesiedelt. Synagogen und Moscheen wurden zerstört oder in Kirchen umgewidmet. Hebräische und arabische Bücher wurden verbrannt, um die religiöse und kulturelle Vielfalt in der Region auszulöschen.
Die portugiesische Identität bildete sich in Abgrenzung zu den Mauren, die historisch gesehen als Feinde galten. Obwohl die Geschichtsschreibung die Kämpfe zwischen Christen und Muslimen betont, waren die Beziehungen tatsächlich laut Joel Sabino vielschichtiger. "In Coimbra lebten Angehörige verschiedener Kulturen. Die Tatsache, dass die arabische Inschrift an der Kirche über so viele Jahrhunderte hinweg erhalten blieb, belegt diese Vielfalt“, sagt er. "Sie ist auch eine Botschaft der Toleranz und Diversität. Wir sehen daran, wie die Stadt von der arabischen und islamischen Kultur und Zivilisation geprägt wurde. Die Inschrift erzählt uns eine Geschichte der Koexistenz.“ Sabino weist zudem auf die islamischen und arabischen Einflüsse am Kirchenbau hin, die sich in den Keramikkacheln der Kathedrale, in den kunstvoll verzierten Säulen und bei der geometrischen Holzdecke wiederfinden. Beispiele sind im nahe gelegenen Machado de Castro Museum ausgestellt.
Auch nach der Eroberung Coimbras durch die katholischen Könige verblieb eine einflussreiche arabischsprachige christliche Gemeinschaft in der Stadt, die sogenannten Mozaraber (vom Arabischen musta’rib, "arabisiert“). Als Beispiel für die Rolle der Mozaraber in der Region nennt Sabino den Grafen Sesnando Davides aus Coimbra, der im muslimischen Córdoba ausgebildet wurde und sowohl den muslimischen Herrschern von Sevilla als auch später den Königen von León diente. Er ist in der Alten Kathedrale Sé Velha bestattet.
"Meine Hand wird eines Tages vergehen“ – wessen Hand?
Wissenschaftler, die sich mit der Inschrift befasst haben, sind sich weitgehend einig, dass sie vermutlich so alt ist, wie die Kirche selbst. Doch wer sie angefertigt hat, darüber ist sehr wenig bekannt.
Nykl schrieb die Inschrift einem mozarabischen Maurer zu, also einem arabisch sprechenden Christen, der am Bau der Kathedrale mitwirkte. Andere, wie Mário Barroca, Spezialist für mittelalterliche Epigraphik, halten es für wahrscheinlicher, dass die Inschrift von einem Muslim verfasst wurde. Möglicherweise von einem versklavten Steinmetz oder einem muslimischen Künstler auf der Durchreise.
"Der Autor dieser Inschrift spricht davon, dass etwas fertiggestellt wird. Möglicherweise hat ein Steinmetz, der an der Kirche arbeitete, die Inschrift als lebendiges Denkmal seiner Arbeit hinterlassen. Aber wir wissen es nicht genau“, meint Salam Rassi, ein Historiker, der zu den theologischen und philosophischen Begegnungen zwischen Christen und Muslimen in der mittelalterlichen islamischen Welt forscht. "Mir fiel insbesondere die Poesie der Inschrift ins Auge“, so Rassi. "Diese rhetorische Figur findet man häufig in Büchern: Die Hand wird vergehen, aber die Schrift wird bleiben. Das Leben ist kurz, aber das geschriebene Wort hat Bestand.“
Rassi zufolge zeugt die Inschrift von einer stark ausgebildeten Präsenz der arabischen Sprache. "Sie deutet darauf hin, dass die Einwohner der Stadt das Arabische sehr gut beherrschten und es nicht nur mündlich, sondern auch zu literarischen Zwecken verwendet wurde.“
"Größe wird bleiben“
Die Inschrift zeugt von Resilienz und einem nachhaltigen Erbe. Ein Erbe, das manche voller Nostalgie an Al-Andalus denken lässt als einer Epoche, die als Zeitalter des interkulturellen Austauschs idealisiert wird, in der Wissenschaft, Kunst und Architektur florierten.
Talal Abuzgia, der ursprünglich aus Libyen stammt und 2018 nach Coimbra zog, um dort seinen Master zu machen, liest aus der arabischen Inschrift eine tiefe Traurigkeit und Sehnsucht: "Ich schrieb (dies) als dauerhaftes Dokument meines Leidens“, heißt es dort. "In der Inschrift steckt ein tiefempfundener Schmerz. Sie zeigt aber auch, dass in Portugal, das einst zu Al-Andalus gehörte, Muslime lebten und immer noch leben“, sagt er.
Heute sind weniger als 0,5 Prozent der rund elf Millionen Einwohner Portugals muslimisch. Und nur wenigen ist bekannt, dass dieser Anteil in der Vergangenheit viel größer war. Als Talal Abuzgia nach Portugal kam, war er überrascht, dass das Arabische in der portugiesischen Sprache ein bleibendes Erbe hinterlassen hat und dass das Land insgesamt so deutlich von der islamischen Kultur beeinflusst wurde.
"Wenn ich alte Gebäude, Burgen und Kirchen besuche oder hier in den Bergen und Tälern unterwegs bin, löst das, was ich sehe, bei mir eine seltsame Mischung aus Vertrautheit, Sehnsucht und Faszination aus“, sagt er. "Manchmal berühre ich die alten Gemäuer, schließe die Augen und reise im Geiste in diese Zeit zurück.“
Anders als in Spanien, wo die muslimische Herrschaft in den großen Zentren wie Granada und Sevilla bedeutende architektonische Schätze hinterlassen hat, finden sich in Portugal nur wenige bauliche Zeugnisse aus dieser Zeit, da die Region damals eher eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Doch obwohl Al-Andalus in Portugal weitgehend vergessen oder verdrängt wurde, finden sich die Hinterlassenschaften aus dieser Epoche noch heute. Unauffällig und schlicht, wie die arabische Inschrift an der Mauer der Kathedrale, ist das andalusische Erbe immer noch vorhanden und immer noch sichtbar – sofern wir bereit sind, es zu entdecken.
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