Wo Christen in Richtung Mekka beten
Als der Archäologe Cláudio Torres die Kleinstadt Mértola zum ersten Mal besuchte, stieß er in der Altstadt nahe der mittelalterlichen Burg auf Keramikscherben. Das Gelände oben auf einem Hügel am Ufer des Río Guadiana lag über Jahrhunderte in einem Dornröschenschlaf.
In Nähe der Burgruinen sah er eine imposante Kirche mit weiß getünchten Wänden und Hufeisenbögen. In ihrem gewölbten Inneren zeigte eine Mihrāb, also eine Gebetsnische, die die Richtung nach Mekka angibt, dass die christliche Kirche einst eine Moschee war.
"Wir ahnten, dass es in Mértola wichtige Hinweise auf die islamische Zeit der Stadt geben müsse und begannen umgehend mit Ausgrabungen", sagt Torres, der 1976 zusammen mit dem Historiker António Borges Coelho anreiste. Die Keramikscherben, die sie unter einem Feigenbaum fanden, erwiesen sich als wichtige islamische Artefakte.
Im 8. Jahrhundert eroberten muslimische Heere aus Nordafrika weite Teile des heutigen Portugals und Spaniens. Ein Großteil der iberischen Halbinsel war über mehrere Jahrhunderte muslimisch. Die muslimische Herrschaft über das als Al-Andalus bezeichnete Gebiet endete erst mit der Reconquista durch die christlichen Königreiche im Norden.
Historische Spurensuche
Nach Entdeckung der Keramikscherben reiste jeden Sommer ein Team aus Archäologen und Studierenden nach Mértola und machte sich auf die Suche nach weiteren Spuren der islamischen Geschichte Portugals.
"Mértola war bedeutender, als wir anfangs dachten", berichtet Torres. Der Binnenhafen machte die Stadt zu einem wichtigen regionalen Handelszentrum, dessen Blüte erst im 13. Jahrhundert nach der Reconquista endete.
Die Bedeutung der Funde veranlasste Torres 1978, den Campo Archeológico zu gründen und mit seiner Familie dauerhaft nach Mértola zu ziehen.
Seitdem entdeckten Archäologen seltene islamische Keramiken, ein Berberviertel aus dem 12. Jahrhundert und ein Taufbecken aus dem 6. Jahrhundert. Mértola beherbergt heute eine der bedeutendsten islamischen Kunstsammlungen Portugals. Die zuvor vernachlässigte Stadt in einer Randregion Portugals wandelte sich dadurch zu einer Museumsstadt, die jedes Jahr Zehntausende von Besuchern anzieht.
Die Funde von Mértola zeigen aber noch viel mehr, nämlich die tiefe Verbindung zwischen Europa und der islamischen Welt, wobei sie den bisherigen Blick auf die Geschichte Portugals infrage stellen.
Portugals vergessene islamische Vergangenheit
Im 13. Jahrhundert eroberte König Alfons III. von Portugal die letzte muslimische Festung im Westen von Al-Andalus und vollendete damit die portugiesische Reconquista. Zwei Jahrhunderte später wurden Muslime und Juden gezwungen, entweder zum Christentum zu konvertieren oder ins Exil zu gehen. Die Koexistenz hatte ein Ende, Portugal wurde ein fast ausschließlich katholisches Land.
Im Westen von Al-Andalus verweist der heutige Name Algarve (von Al-Gharb, im Westen) immer noch auf die arabisch-islamischen Wurzeln, die überall im Land bis heute zu finden sind. Dennoch ist das islamische Erbe weitgehend unterschätzt oder gänzlich vergessen.
Historisch gesehen werden Muslime seit jeher als Bedrohung dargestellt. "Die nationale Identitätssuche entstand in Abgrenzung zu den Muslimen. Die mittelalterliche Vergangenheit wurde als ein Kampf zwischen dem christlichen Norden und dem islamischen Süden reduziert", erklärt Susana Martínez, Professorin für Mittelalterliche Geschichte und Archäologie an der Universität von Évora.
"Die nördlichen Königreiche wollten sich nach Süden ausdehnen und brauchten dafür eine ideologische Begründung. Also inszenierten sie sich als Erben des Westgotenreichs, das vor den maurischen Eroberungen auch die iberische Halbinsel umfasste. Dabei waren die nördlichen Königreiche und die Westgoten stets erbitterte Feinde", so Martínez. "Das Westgotenreich befand sich im ständigen Krieg mit den nördlichen Königreichen."
Die als Reconquista bekannte Periode der Ausdehnung der christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel unter Zurückdrängung der muslimischen Herrscher, die als Feinde dargestellt wurden, mündete später in die Entwicklung einer nationalen Identität und Bildung der Nationalstaaten Portugal und Spanien. "Auch Diktatoren rekurrierten gerne auf die Idee der Reconquista. Heute wird sie im Kern von den rechtspopulistischen Parteien in Europa wieder aufgegriffen", ergänzt Martínez.
Was Archäologen in Mértola fanden, erzählt jedoch eine ganz andere Geschichte. Es gab offenbar eine Koexistenz und Kontinuität zwischen dem Norden und dem Süden. "Die Idee der Konfrontation und des Kampfes zwischen Christen und Muslimen wurde von den Eliten gepflegt", sagt Martinez. Archäologen in Mértola möchten hingegen die Geschichten der einfachen Menschen und deren alltägliches Zusammenleben nacherzählen. Geschichten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung getilgt wurden.
Der Fokus der Wissenschaftler liegt nicht auf den Kämpfen und Ambitionen der damals herrschenden Eliten, sondern darauf, wie einfache Menschen verschiedenen Glaubens zusammenlebten, in der gleichen Erde begraben wurden und ähnliche Traditionen und Lebensweisen teilten.
Kontinuität friedlicher Koexistenz
Cláudio Torres sieht in der Kirche von Mértola den besten Beleg für eine friedliche Koexistenz. Die Kirche ist gleichzeitig Portugals besterhaltene mittelalterliche Moschee. Ein Ort, an dem Christen noch immer in Richtung Mekka beten. "In der Stadt mit ihren vielfältigen Spuren islamischer Geschichte konnten wir ein Bewusstsein für diese Kontinuität entdecken", so Torres. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den historischen Beziehungen zwischen den Menschen im Mittelmeerraum.
Torres ist davon überzeugt, dass der muslimische Glauben nicht gewaltsam in Form von Kämpfen durchgesetzt wurde, sondern sich allmählich über den Handel in den Mittelmeerhäfen ausbreitete. Die archäologischen Stätten in Mértola deuten sogar darauf hin, dass es Massenkonvertierungen zum Islam gab.
Ausgehend von der gemeinsamen Vergangenheit zwischen Portugal und Nordafrika versucht Torres, die Vorstellung zu widerlegen, Muslime seien Invasoren und der Islam in Europa ein Fremdkörper.
In seiner Jugend war Torres ein Gegner des katholisch-autoritären Regimes, das Portugal bis 1974 diktatorisch beherrschte. Er wurde wegen seines gewaltsamen Widerstands verhaftet und gefoltert.
Torres hatte nicht das Geld, um Schleuser für die Flucht nach Frankreich zu bezahlen. Er floh daher gemeinsam mit seiner schwangeren Frau und weiteren Dissidenten auf einem kleinen Motorboot nach Marokko. Bei der Überfahrt wären sie fast im Mittelmeer ertrunken. Die Reise erinnert an die heutigen Bootsflüchtlinge.
Nach dem Ende der Diktatur kehrte Torres aus dem Exil zurück. In der Auseinandersetzung mit der islamischen Vergangenheit Portugals arbeitet er an einem Projekt, das man als Gegenpol zum damaligen faschistoiden katholischen Regime betrachten kann. "Unsere archäologische Arbeit war Teil eines Projekts zur Förderung des politischen Wandels", sagt Torres.
Angesichts der zunehmenden Islamophobie und Intoleranz in Europa könnte sein Projekt relevanter sein denn je.
Marta Vidal
© Qantara.de 2019
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers