Männer mit Hüftschwung
Am Anfang ist der Sound. Zunächst ist nur ein Wummern zu hören, nach wenigen Sekunden dröhnt der orientalische Rhythmus durch den Saal, aufgelegt vom DJ in der Ecke. Mit ausgestreckten Armen betritt Ali Murat Sahiner den riesigen Raum, mit einem herausfordernden Blick schaut er ins Publikum, das ihn schon erwartet. Eine Bewegung durchfährt ihn, seine Arme rollen wie Wellen, der Beat wird härter. Sahiners Hüften zucken, der nackte Oberkörper mit dem wenigen Silberschmuck und die weite Pailletten-Hose glitzern im Disco-Licht. Dann biegt er seinen ganzen Körper zum Rhythmus der Musik - halb Gummi-Mann, halb artistisches Spektakel. Ein Bauchtänzer halt. Die Show geht los.
An diesem Samstagabend sitzen im Restaurant „Zarifi“ am Taksim-Platz in Istanbul etwa 300 Gäste. Es wird gegessen, aber vor allem viel Alkohol getrunken. Jeden Samstag tritt Sahiner hier unter dem Künstlernamen „Diva“ auf. Zwar tanzen nach ihm noch zwei Bauchtänzerinnen. Doch der 36-Jährige mit dem schwarzen kurzen Haar, der Wimperntusche und dem Lippenstift ist die Hauptattraktion der Nacht. Während seiner dreiminütigen Performance lässt er sein Becken kreisen. Die Bewegungen fließen, während er den Kopf aufrecht hält und lächelt. Er wirkt lasziv und elegant zugleich, keine Schweißperle ist zu sehen.
Jahrhunderte alte Tradition
Sahiner ist eine „Zenne“. So werden männliche Bauchtänzer in der Türkei genannt. Auch wenn es zunächst nach einer exotischen Performance aussieht - der maskuline Hüftschwung hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Schon auf bunten Miniaturmalereien aus dem Osmanischen Reich sind „Zenne“ verewigt, damals durften Männer aber nur vor Männern auftreten, Frauen nur vor Frauen. Dann verschwand diese Tradition in den meist homosexuellen Untergrund, und Bauchtanz wurde ausschließlich Frauensache.
Heute sehen Touristen im türkischen Bauchtanz orientalisches Tralala und glauben sich in Märchen aus 1001 Nacht versetzt. Der türkische Tourismusminister Ertugrul Günay nannte den Bauchtanz 2009 nicht mehr zeitgemäß und wünschte sich, in Werbespots für sein Land keine Bauchtänzerinnen mehr sehen zu müssen. Ist es eine Kunstform? Ein schlüpfriger Beinahe-Striptease? Auch wenn viele dem Tanz gerne zusehen - die Tänzerinnen haben seit jeher das Image eines wandelnden Sexualobjekts.
Erst als der Spielfilm „Zenne“ im Jahr 2012 auch international Erfolge feierte, entdeckten die Türken die männlichen Tänzer wieder für sich. Das Drama handelt von den Schwierigkeiten eines schwulen Bauchtänzers in einer patriarchalischen Gesellschaft. In der Realität profitieren die Künstler sogar von konservativen gesellschaftlichen Entwicklungen. Denn seit der Islam unter der AKP-Regierung in der laizistischen Republik immer sichtbarer wird, haben es weibliche Bauchtänzerinnen noch schwerer als zuvor.
Leicht bekleidete Tänzerinnen gelten als anstößig
„Je religiöser die Gesellschaft wird, desto mehr Aufträge bekomme ich“, sagt Sahiner. „Gläubige Muslime halten einen tanzenden Mann eher aus als eine leicht bekleidete Frau.“ Zudem gilt es als schick, sich auf der eigenen Hochzeit einen Bauchtänzer leisten zu können. Auf Partys und in Restaurants sieht man wieder vermehrt Männer mit dem typischen Hüftschwung und den Zitterbewegungen.
Im „Zarifi“ beherrscht der Beat den Raum, Kellner rennen mit den traditionellen „Meze“-Vorspeisen hin und her, auf den Tischen stehen Raki-Flaschen und Red-Bull-Dosen. Sahiner holt Schwung und dreht sich um seine Körperachse, dreimal, fünfmal, zehnmal, wie ein Kreisel. Dann bleibt er stehen, lässt seine glattrasierte Brust rhythmisch beben, schaut mit einem erotisch fordernden Blick und leicht geöffneten Mund ins Publikum.
Trotz der Performance hören Gespräche und Gelächter nicht auf, es wird hemmungslos gegessen, geraucht, gesoffen. Erst als er auf die Theke steigt und ein Scheinwerfer seinen durchtrainierten Körper anstrahlt, hat Sahiner die Aufmerksamkeit der Besucher für sich. Wieder dreht er sich um die eigene Achse, immer schneller, mit seinen Armen und Händen umrahmt er seinen Körper. Dann verstummt der Sound, Sahiner steigt herab, verbeugt sich mit großer Geste, Applaus – dann verschwindet er in die Garderobe, wo er sich rasch eine Zigarette anzündet.
Was für die Zuschauer wie Entertainment ausschaut, ist für die Tänzer Hochleistungssport. Täglich muss Sahiner mindestens drei Stunden trainieren, hinzu kommen Proben und Aufführungen. Und immer dieses Lächeln! Nur wer sich Perfektion abverlangt, schafft es aus dem Restaurant ins Fernsehen. Nur wer sich schindet und gut zu vermarkten weiß, kann auch Geld mit seiner Arbeit verdienen.
Wenige Tage nach seinem Auftritt im „Zarifi“ sitzt Sahiner in einem Café im Viertel Tarabya auf der europäischen Seite der Stadt, etwa eine Stunde Autofahrt vom Taksim-Platz entfernt. Er ist ungeschminkt, die Haare fallen ihm ins Gesicht, eine dicke Winterjacke schützt vor dem kühlen Wind. Anders als auf der Bühne wirkt er nun zerbrechlich. Er wohnt hier am ruhigen Stadtrand, im Gespräch hebt er vorsichtig die Teetasse hoch, spricht mit zarter Stimme und lächelt verlegen.
Als Zwanzigjähriger begann er, sich für den Tanz zu begeistern. „Mit meinem Körper kann ich meine Gefühle stärker ausdrücken, als ich es mit Worten je konnte.“ Sahiner brach sein Studium ab und trainierte ganz alleine, indem er sich Videos anschaute. Die dünnen Kostüme nähte er sich selbst. Nie, sagt er, habe er Unterricht genommen. Seinen ersten bezahlten Auftritt hatte er im Badeort Bodrum, für umgerechnet drei Euro. „Für mich war das damals sehr viel Geld.“ Heute kann er nach eigener Aussage teilweise Hunderte Euro pro Auftritt verlangen.
Ein gnadenloses Geschäft
Seine Eltern wussten zunächst nichts von dem Job ihres Sohnes. Eine Nachbarin, die ihn in einer Show sah, verpetzte ihn. Über Wochen hinweg mied ihn die Familie und legte auf, wenn er anrief. Seine schmalen Hände steckt Sahiner in die Jackentasche, wenn er Persönliches erzählt, von seiner Scheidung etwa, oder dass er sich wieder eine Partnerin wünscht. Die „Diva“ ist nun ein ängstlicher Künstler, der sich um seine Zukunft sorgt. Denn das Geschäft ist gnadenlos. „Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Beruf noch ausüben kann. In der Unterhaltungsbranche will man nur die Jugend sehen. Es wird immer schwerer für mich, gegen den Nachwuchs anzutanzen.“
Einer seiner Konkurrenten sitzt in einer dunklen Schwulenkneipe am Taksim-Platz. Baha Pinar, sehr selbstbewusst in körperbetontem Pulli und engen Jeans, zeigt auf seinem Handy Bilder von sich als Bauchtänzer. „Zenne Baha“, wie er sich nennt, liebt es, über sich zu sprechen. Der Zweiundzwanzigjährige tanzt seit vier Jahren, auch er ist Autodidakt. „Manchmal brauche ich Monate, bis eine Figur klappt. Aber ich gebe nie auf, ich habe gelernt, Frust wegzustecken.“ Seine Familie habe nie Probleme mit seiner Homosexualität und seinem Job gehabt.
Auch er profitiere von der konservativen Regierung. Bauchtänzerinnen bekämen weniger Engagements, weil blanke Haut immer mehr zum öffentlichen Tabu werde. „Außerdem wollen Frauen keine Frauen ertragen müssen, mit denen sie niemals mithalten können. Und weil unsere Türkinnen wahnsinnig eifersüchtig sind, wollen sie auch nicht, dass ihre Männer anderen Frauen zuschauen.“ Umgekehrt sei es überhaupt kein Problem: „Türkische Machos werden niemals auf einen Schwulen wie mich eifersüchtig sein.“ Deswegen neideten ihm die Kolleginnen auch den Erfolg. „Aber ich kann die Situation nicht ändern“, sagt er achselzuckend und wirft sein schwarzes Haar zurück.
Mit 30 ist Schluss
Inzwischen verdient Pinar bis zu 200 Euro pro Show, tritt mehrmals wöchentlich auf. Gelegentlich hat er Engagements im Ausland, oder er wird in Fernsehsendungen eingeladen. Er ist jung, er ist eitel, er ist ehrgeizig - aber er ist auch Realist. Bis zu seinem 30. Geburtstag will er den Job ausüben, danach nur noch unterrichten: „Niemand will einem alten Mann dabei zuschauen, wie er kurzatmig tanzt.“
Am Samstagabend im „Zarifi“ ist es mittlerweile fast Mitternacht - Zeit für Sahiners zweiten und letzten Auftritt. Er hat sein Kostüm gewechselt, wieder ist es farbenprächtig, mit Perlen, Strasssteinen, Pailletten besetzt. Der DJ legt einen wummernden Song auf, der Tänzer betritt den Saal. Sahiner hebt seine Hüfte, lässt sie fallen und kreisen. Er schüttelt seine Schultern, seine Finger bewegen sich langsam und schlangenartig.
Die Musik füllt den Raum aus, die Luft ist schwer vom Zigarettenqualm, Sahiner gelingt es, die Gäste zum Mitmachen zu bewegen. Körper an Körper tanzen sie zwischen den Tischen. Er wird auch von Männern angetanzt, aber immer nur kurz. Frauen stecken ihm Geldscheine nur eine Handbreit unter dem Bauchnabel zu. Nach wenigen Minuten ist auch diese Show wieder vorbei, Sahiner verschwindet in die Garderobe. Zurück bleibt nur der Sound.
Cigdem Akyol
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