Die skeptische Generation
Der Umbruch in der arabischen Welt ist revolutionär, er hat die gesamte Region erfasst. Aber er ist noch unabgeschlossen, er wird schwieriger werden als die Systemwende in den Staaten des Ostblocks, blutiger verlaufen und länger dauern.
Bislang sind nur drei Autokraten gestürzt; aber kein Staat in der arabischen Welt kann sich der politischen Druckwelle völlig entziehen, die ihren Ausgang in Tunesien und Ägypten genommen hat. Diese beiden Staaten haben heute die größte Chance, sich zu konsolidierten Demokratien zu entwickeln.
Die Ergebnisse der Umbruchprozesse in der Region werden uneinheitlich sein – so dass die Unterschiede zwischen den einzelnen arabischen Ländern, zunächst jedenfalls, noch deutlicher zutage treten dürften als heute schon. Auch wenn die Bürger der verschiedenen Staaten sich unübersehbar näher gekommen sind.
Die große Aufgabe, neue, demokratische oder zumindest repräsentativere, verantwortliche und besser regierte politische Systeme im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen, wird sicherlich ein Jahrzehnt, vielleicht länger brauchen. Garantien gibt es nicht. Dieser Prozess wird auch eine Herausforderung für Europa sein, das die Ereignisse in dieser Nachbarregion zwar nicht bestimmen kann, wohl aber beeinflussen wird.
Die politisch-sozialen Verhältnisse in den Staaten, so lässt sich generalisieren, waren durch eine extrem schlechte Regierungsführung gekennzeichnet, also durch eklatante Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde, durch Korruption und wachsende Ungleichheit und durch die besondere Benachteiligung von Frauen und jungen Leuten. Und wir haben beziehungsweise hatten es quer durch die Region mit überwiegend autoritären, jedenfalls nicht-demokratischen politischen Systemen zu tun.
Fragwürdiger Demokratisierungsbegriff
Eine bittere Wahrheit ist, dass westliche Politik eine demokratische Entwicklung in der arabischen Welt nicht wirklich vorwärtsgebracht hat. Man kann einwenden, dass dies auch nicht die Aufgabe des Westens oder anderer ausländischer Akteure sei. Nur hat man eben in Europa und in den USA immer wieder von Demokratieförderung gesprochen. Zum Teil war das auch ernst gemeint.
Einige Programme, die etwa im Rahmen der Mittelmeerpartnerschaft der EU auf den Weg gebracht wurden, haben zweifellos dazu beigetragen, eine Reihe von gesellschaftlichen Akteuren zu stärken, die in ihren Ländern für den Schutz der Menschenrechte, für Pressefreiheit oder für mehr Rechtsstaatlichkeit eintraten.
Aber es ist auch Schindluder mit dem Begriff der Demokratiehilfe getrieben worden. Selbst die Irak-Invasion von 2003 wurde von Vertretern oder Vordenkern der damaligen amerikanischen Regierung gelegentlich als Beitrag zur Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens dargestellt.
Manche tun das übrigens noch heute mit einer gewissen Schamlosigkeit, indem sie behaupten, dass der von außen, durch amerikanische Truppen herbeigeführte Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein gewissermaßen den Anstoß für die Revolutionen von 2011 gegeben habe.
Das Gegenargument lässt sich leichter vertreten. Der Irakkrieg von 2003 hat tatsächlich einen Diktator aus seinem Palast vertrieben. Er hat aber den anderen Autokraten eine politische Lebensverlängerung beschert. Der Irak versank über Jahre im Bürgerkrieg; und die demokratischen Institutionen, die die Besatzungsmacht dort aufbaute, funktionieren bis heute nicht sonderlich gut.
Nicht nur der syrische Präsident Assad hat in den Jahren nach 2003 immer wieder auf das blutige Chaos bei den irakischen Nachbarn verwiesen, um seinen Bürgern zu verstehen zu geben, dass sie mit seiner autoritären Herrschaft allemal besser bedient seien als mit westlichen Demokratieexporten.
Wichtiger noch ist, dass Washington und die europäischen Hauptstädte – Moskau und Peking, die ohnehin nicht auf Demokratieförderung setzen, spielen hier keine Rolle – seit 2001 und mehr noch seit 2003 im Nahen und Mittleren Osten vor allem nach Partnern suchten, die sie im "Krieg gegen den Terror" unterstützen und gleichzeitig Stabilität garantieren könnten.
Dazu kam die Sorge vor einem wachsenden Einfluss Irans, vor der Ausbreitung islamistischer Tendenzen und, was Europa betrifft, vor ungeregelten Migrationswellen. Man ermahnte zwar die Partnerregime immer wieder, politische Reformen einzuleiten und die Menschenrechte zu respektieren.
Die Botschaft, die in Kairo und Tunis wie auch in Riad, Rabat, Ramallah oder Damaskus verstanden wurde, war aber eine andere: Wer im Kampf gegen terroristische Bedrohungen kooperiert und dazu beiträgt, die regionalen Verhältnisse stabil zu halten, wird als Partner oder, in der Diktion amerikanischer Politik, als "moderater Spieler" betrachtet, egal, wie er mit seinen eigenen Bürgern umgeht. Wer nicht kooperiert, läuft Gefahr, "demokratisiert" zu werden.
Islamismus oder Chaos
Die Staatschefs der arabischen Welt ließen sich auf dieses Spiel gern ein. Die meisten waren, auch aus eigenem Interesse, nur zu bereit, sich den USA als Partner im Kampf gegen Al Qaida oder auch in der Auseinandersetzung mit Iran anzubieten und sich dafür auch unterstützen zu lassen.
Den Europäern gegenüber präsentierten sie sich vor allem als Stabilitätsgaranten: Die einzigen Alternativen zur eigenen Herrschaft seien die Machtübernahme durch islamistische Extremisten oder das Chaos. Ägyptens Präsident Mubarak und Tunesiens Ben Ali waren in dieser Hinsicht besonders erfolgreich.
Tatsächlich hat vieles dazu beigetragen, dass die versteinerten politischen Verhältnisse in der Region seit Anfang 2011 dann rasch in Bewegung gerieten. Dazu gehören technologische, weltwirtschaftliche, politische und soziostrukturelle Faktoren: das Satellitenfernsehen und die neuen "sozialen" Medien haben eine Rolle bei der schnellen Verbreitung der Proteste gespielt; steigende Lebensmittelpreise haben den Protest der Armen genährt; einige Wikileaks-Berichte mögen bestätigt haben, was an Gerüchten und Vermutungen über die Korruption der Herrscher in Tunesien und anderen arabischen Ländern ohnehin kursierte.
Die wichtigste erklärende Variable für den Umbruch dürfte aber in der demografischen Entwicklung liegen: Die arabische Revolte von 2011 ist vor allem ein Aufstand der Jugend. Die Gruppe der 20- bis 35-Jährigen, der zwischen 1975 und 1990 Geborenen also, macht mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung in den arabischen Staaten aus. Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit den Baby-Boomern der arabischen Welt zu tun, die in den Jahren des höchsten Bevölkerungszuwachses geboren wurden.
Es wundert nicht, dass Mitglieder dieser Generation die wesentlichen Träger der Revolte in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Staaten wurden: Sie sind allgemein besser ausgebildet als ihre Vorgänger, und sie sind in vielfacher Hinsicht vernetzter und global orientiert.
All dies ist vor allem ein Ergebnis des Ausbaus des Bildungswesens, den die arabischen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten auf den Weg gebracht haben. Im Ergebnis ist heute die Jugendarbeitslosigkeit in den arabischen Staaten höher als in anderen Weltregionen.
Aufstand der Jugend
Es ist auffällig, wie sehr die heute 20- bis 35-Jährigen in der arabischen Welt eine von gemeinsamen Erfahrungen geprägte Generation bilden. Von Rabat bis Riad, so lässt sich vereinfachend sagen, quer durch die arabische Welt, ist dies eine Generation, die sich um ihre Chancen zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Teilhabe betrogen gesehen hat. Weil sie kein oder wenig Einkommen haben, können sie keine eigene Wohnung anmieten. Ohne eigene Wohnung können sie keine Familie gründen.
Je konservativer die Gesellschaft, desto schwieriger ist es, auch unverheiratet eine sexuelle Beziehung zu pflegen. Sie erleben, dass die Einkommensschere sich öffnet und dass Politik bestenfalls ein Geschäft – oft tatsächlich ein Geschäft – der Eliten ist, zu dem sie nicht eingeladen sind, wenn sie nicht gerade zu einer der eng mit der Herrschaftselite verbandelten Familien gehören.
Sie können, weil sie täglich mit dem Internet umgehen, in den Wikileaks lesen, für wie korrupt amerikanische Diplomaten die politische Führung ihrer Länder halten. Sie haben oft erlebt, wie willkürlich Polizei und Behörden mit jungen Leuten, mit Landbewohnern, mit Arbeitern oder mit Dissidenten umgehen.
Wenn die gleichzeitigen Erfahrungen die Mitglieder dieser Jahrgänge zu einer Generation gemacht haben, so wurden sie seit 2011, mit dem Beginn des Aufstands in Tunesien, dann in Ägypten und in anderen arabischen Ländern zu einer politischen Generation, die sich als Akteur versteht und von anderen auch so verstanden wird.
Dazu passt, dass die Forderungen, die von den Protestbewegungen gestellt wurden, fast überall dieselben sind – sich aber von Slogans, die man hier in den 80er, 90er Jahren des 20. Jahrhundert bei oft ebenfalls zornigen Protesten hören konnte, deutlich unterscheiden. Von wenigen Einzelfällen abgesehen hieß es eben nicht "Der Islam ist die Lösung", nicht "Nieder mit Imperialismus und Zionismus".
Die Aufstände waren, auch das unterschied sie von früheren Revolten in verschiedenen arabischen Staaten, unideologisch und, wie der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy es nannte, post-islamistisch, brauchten offensichtlich auch keine der Ideologien, die in der arabischen Welt hauptsächlich im Angebot waren: Islamismus und arabischer Nationalismus.
Die "2011-Generation"
Die 2011er ist auch eine skeptische Generation. Sie ist jedweder Ideologie gegenüber skeptisch, auch der der Islamisten. Viele sind religiös, betrachten aber den Islam als Religion, nicht als Ideologie. Diese Generation glaubt vor allem nicht mehr, was die offizielle Propaganda der autoritären Systeme verbreitet.
Und warum sollte sie dies auch. Erlebten sie doch, wie zynisch auch die Generation ihrer Eltern und Lehrer mit den Bekenntnissen umgingen, die die Regierungen zu vertreten vorgaben oder bei öffentlichen Anlässen einforderten: Wenn jeder wusste, dass die Teilnahme und Abstimmung bei Präsidentschaftswahlen in Ländern wie Syrien, Ägypten oder Tunesien, die in den Staatsmedien als "Huldigung" des Amtsinhabers gefeiert wurden, keinen Unterschied machte; wenn Regierungs- und Staatsparteien sich "demokratisch" nannten, faktisch aber die Macht einer kleinen Clique absicherten; wenn regelmäßige Antikorruptionskampagnen ebenso regelmäßig an den bekannten Größen und Günstlingen der Regime vorbeigingen; wenn überall von arabischer Solidarität und von der Unterstützung der Palästinenser gesprochen wurde, praktisch aber der größte Staat der arabischen Welt, Ägypten, seine Grenze zum Gaza-Streifen geschlossen hielt und damit die israelische Blockade unterstützte; wenn die herrschenden Regime sich mit vergangenen Erfolgen zu schmücken suchten, die für die Lebenswirklichkeit der Menschen keine Bedeutung hatten.
Die arabischen Aufstände von 2011 waren nirgendwo auch nur ansatzweise eine islamische Revolution. Gleichwohl wird der politische Islam eine Rolle spielen. In praktisch allen arabischen Staaten gäbe es eine Basis für eine konservative Volkspartei religiöser Prägung nach dem Modell der türkischen AKP. Aber auch hier wird die Bandbreite zunehmen. Die Öffnung der politischen Systeme zwingt auch das politisch-islamische Spektrum pluralistischer zu werden.
In Ägypten zeigt sich das sehr deutlich mit den Spaltungen und Abspaltungen von der Muslimbruderschaft, deren Mitglieder nicht mehr unter dem Druck der Illegalität zusammengepresst und auch zusammengeschweißt werden. Eine solche Ausdifferenzierung im politisch-islamischen Spektrum ist im Grunde ein gesunder Prozess, der die Pragmatiker und Reformer von den Fundamentalisten trennen kann.
Absage an den terroristischen Dschihad
Eine der wirklich guten Nachrichten der arabischen Aufstände und Revolutionen ist, dass sie auch eine Absage an die Ideologie eines gewaltsamen, terroristischen Dschihad war, wie Al Qaida ihn verkörpert. Die Forderungen der Protestbewegungen nach individueller Freiheit und Demokratie standen in radikalem Gegensatz zur Ideologie der Al Qaida.
Der Versuch von Ayman al Zawahiri, dem Stellvertreter und späteren Nachfolger Usama bin Ladens, den Menschen in Ägypten in einer Video-Botschaft drei Monate nach ihrer Revolution zu erklären, dass diese unvollständig sei, sofern sie keinen vollständig islamischen Staat errichteten, traf dort offensichtlich nicht auf Widerhall.
Das ideologische Angebot Al Qaidas wirkt auf die heutige Generation der zornigen jungen Leute schlicht schal. Die Macht des "Volkes", das "Veränderung will", ist attraktiver als terroristische Gewalt.
Volker Perthes
© Qantara.de 2011
Volker Perthes ist Nahostexperte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.