Verkrustete Strukturen aufbrechen

In kaum einem anderen Land werden einheimische und ausländische, männliche und weibliche Arbeitskräfte so ungleich behandelt wie in Saudi-Arabien. Der Arbeitsmarkt spiegelt die Widersprüche der saudischen Gesellschaft wider. Die begonnenen Reformen gestalten sich schwierig. Von Nassir Djafari

Von Nassir Djafari

Der Ende der 1930er Jahre beginnende Erdölexport konfrontierte den rückständigen Wüstenstaat mit der modernen Arbeitswelt. Saudi-Arabien verfügte aber weder über die Expertise noch über die Arbeitskräfte für seine rasch expandierende Wirtschaft. Schnell stieg der Anteil der Arbeitsmigranten. 1970 waren es noch eine Million, heute arbeiten rund 10 Millionen Ausländer in Saudi-Arabien, dies entspricht einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Einheimischen richteten sich auf den gut bezahlten Stellen in der öffentlichen Verwaltung ein.

Abgesehen von den wenigen ausländischen Spezialisten, verdienen die Migranten bei gleicher Qualifikation nur halb so viel wie die Einheimischen. Der überwiegende Teil der ausländischen Arbeitnehmer ist in der Privatwirtschaft beschäftigt, wo sie bei geringerem Verdienst länger und unter schwierigeren Bedingungen arbeiten müssen als die Angestellten des öffentlichen Sektors.

Hinzu kommen ihre geringeren Rechte. Migranten erhalten nur auf Antrag eines saudischen Arbeitgebers, der die Rolle eines Bürgen übernimmt, eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung (Kafila-System). Ihren Arbeitsplatz können sie nur wechseln, wenn der Bürge sie freigibt. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Migranten hält ihre Löhne niedrig, was die Arbeitgeber zu schätzen wissen. Aus volkswirtschaftlicher Sicht hingegen sind damit Effizienzverluste verbunden, da das produktive Potenzial der ausländischen Arbeitnehmer nicht optimal genutzt werden kann.

Auch die Einheimischen sind wenig mobil, sie bevorzugen kulturell anerkannte Jobs vor allem im Büro, während manuelle Tätigkeiten als minderwertig angesehen werden. Viele Saudis warten lieber auf eine Anstellung im öffentlichen Sektor, als sich in der Privatwirtschaft zu bewerben. Und dies, obwohl die Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren zugenommen hat; besonders gravierend ist sie bei Jugendlichen und Frauen.

Bildungsoffensive

Etwa 31 Prozent der saudischen Jugendlichen sind arbeitslos. Selbst eine höhere Ausbildung schützt sie nicht vor der Arbeitslosigkeit. Seit 2010 sind die Einschreibungen in den Universitäten um 60 Prozent gestiegen. Allerdings entsprechen die Abschlüsse häufig nicht den Erfordernissen der Privatwirtschaft. Während es einen Überschuss an Absolventen geistes- und sozialwissenschaftlicher Fakultäten gibt, fehlt es an Ausgebildeten in technischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Disziplinen. Internationale Bildungsstandards werden nicht erfüllt.

Die King Saud University in Riad; Foto: picture-alliance/dpa
Vom Erdöl-Rentierstaat zur Bildungsgesellschaft? Die Modernisierung des Bildungswesens ist eine der tragenden Säulen der 2016 von König Salman verkündeten Reformstrategie „Vision 2030“, mit der das Land vom Erdöl unabhängig werden will. Die Vision 2030 sieht die Zukunft des Landes in einer „wissensbasierten Ökonomie“, deren wichtigste Ressource nicht mehr das Erdöl, sondern die einheimischen Fachkräfte sind.

Die Modernisierung des Bildungswesens ist eine der tragenden Säulen der 2016 von König Salman verkündeten Reformstrategie "Vision 2030", mit der das Land vom Erdöl unabhängig werden will. Die Vision 2030 sieht die Zukunft des Landes in einer "wissensbasierten Ökonomie", deren wichtigste Ressource nicht mehr das Erdöl, sondern die einheimischen Fachkräfte sind. Die Regierung will dies durch internationale Expertise und die Zusammenarbeit mit privaten Bildungsträgern erreichen.

In den vergangenen Jahren sind bereits zahlreiche, größtenteils privat betriebene Berufsbildungsinstitute aus dem Boden geschossen. Das Flaggschiff der Bildungsoffensive sind die "Colleges of Excellence", die unter Beteiligung internationaler Firmen junge Männer und Frauen unter anderem für Berufe in den neuen Wirtschaftssektoren wie etwa erneuerbare Energie, Bergbau, Infrastruktur, Transport und Tourismus qualifizieren.

Neue Jobs werden vor allem in der Privatwirtschaft entstehen, weil sich die Regierung aufgrund des niedrigen Ölpreises zu Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor gezwungen sieht. Da private Unternehmen jedoch wenig Neigung zeigen, saudische Arbeitskräfte einzustellen und die Einheimischen ihrerseits den öffentlichen Dienst bevorzugen, greift der Staat in den Arbeitsmarkt ein, um die Beschäftigung von Saudis im Privatsektor zu fördern.

Die Zielgrößen für den Anteil einheimischen Personals (Quoten) werden nach einem Verteilungsschlüssel festgelegt, der sowohl die Branche als auch die Unternehmensgröße berücksichtigt. Die Einstellung einheimischer Arbeitskräfte ist mit Anreizen verbunden, während im gegenteiligen Fall Sanktionen drohen. Unternehmen erhalten umso schwerer Arbeitsvisa für im Ausland angeworbene Mitarbeiter, je geringer der Anteil ihres einheimischen Personals ist. Auf der anderen Seite werden Einheimische gezielter an den Arbeitsmarkt herangeführt. Neu geschaffene Arbeitsvermittlungszentren bieten Fortbildungsmaßnahmen an und vermitteln Arbeitslose an private Firmen. Darüber hinaus finden Job-Messen statt, auf denen Arbeitgeber und Arbeitsuchende zusammengebracht werden.

Die Wirkung der "Saudisierung" blieb bislang begrenzt. Es gelang zwar, die Zahl der im Privatsektor beschäftigten Saudis von rund 486.000 im Jahre 2004 auf 1,5 Millionen in 2014 zu steigern. Im gleichen Zeitraum nahm aber die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte von 4,1 auf 8,5 Millionen zu. Nach wie vor besteht die Belegschaft privater Unternehmen zu 89 Prozent aus ausländischen Kräften.

Ausländische Arbeitnehmer in Riad; Foto: AFP/Getty Images
„Saudisierungsprogramm“ mit begrenztem Erfolg: Es gelang zwar, die Zahl der im Privatsektor beschäftigten Saudis von rund 486.000 im Jahre 2004 auf 1,5 Millionen in 2014 zu steigern. Im gleichen Zeitraum nahm aber die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte von 4,1 auf 8,5 Millionen zu.

Die staatlichen Vorgaben werden immer wieder umgangen, indem Unternehmen gegen Bezahlung Saudis als Mitarbeiter registrieren, ohne sie zu beschäftigen. So erfüllen sie die Quoten, ohne ihre zu Dispositionsfreiheit beeinträchtigen.

Frauenbeschäftigung in der Männerwelt

Im Rahmen des "Saudisierungsprogramms" erhalten Unternehmen, die Frauen beschäftigen, Bonuszahlungen. Außerdem wird die Beschäftigung von Frauen in der Industrie ebenso wie die Telearbeit gezielt gefördert. Der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Beschäftigten ist mit 16 Prozent einer der niedrigsten nicht nur weltweit, sondern auch im arabischen Raum. Weibliche Arbeitskräfte sind überwiegend im öffentlichen Sektor beschäftigt, wo sie wiederum hauptsächlich als Lehrkräfte an Mädchenschulen tätig sind.

Welche Berufe Frauen ausüben, hängt nicht nur von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt ab. Das saudische Arbeitsgesetz räumt Frauen zwar das Recht ein, die gleichen Arbeiten auszuführen wie Männer. Allerdings wird einschränkend darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen der Scharia ebenso wie die Erwartungen bezüglich der "Natur der Frau" zu beachten seien. Beides lässt Raum für Interpretationen. Aus einer "Positivliste" des Arbeitsministeriums geht hervor, welche Arbeiten es für Frauen als geeignet betrachtet (etwa Verkauf, Friseurhandwerk).

Saudische Frau am Steuer; Foto: picture-alliance/dpa
Meilenstein für die Gleichberechtigung der saudischen Frau: Ab Juni kommenden Jahres dürfen Frauen einem Dekret von König Salman zufolge selbst Auto fahren. Bis dahin soll alles auf die Millionen von neuen Verkehrsteilnehmerinnen vorbereitet sein. Menschenrechtsaktivisten hatten seit mehr als drei Jahrzehnten gegen das Fahrverbot für Frauen gekämpft. Die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen in Saudi-Arabien wurde weltweit begrüßt.

Dies sind keine strikten Regeln, sondern "Feststellungen", die eine starke normative Kraft haben. Es gibt aber auch eine "Negativliste", die all jene Berufe nennt, die für Frauen als ungeeignet angesehen werden (etwa Tätigkeiten im Bergbau, Bausektor, Autoreparatur). Hinzu kommt, dass Frauen grundsätzlich die Erlaubnis eines männlichen Verwandten benötigen, um arbeiten zu dürfen. Eine weitere Barriere stellt die von der Geistlichkeit geforderte strikte räumliche Trennung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz dar.

Barrieren für Frauen

Obwohl Geschlechtertrennung nicht ausdrücklich vom Gesetz vorgeschrieben ist, gibt das Arbeitsministerium Regeln vor, wie getrennte Ein- und Ausgänge oder separate Kantinen zu gestalten sind. Schließlich erschwert das in Saudi-Arabien bislang noch geltende Fahrverbot den berufstätigen Frauen überhaupt zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Auf Arbeitgeber, die Frauen beschäftigen wollen, kommen damit Zusatzkosten für angemessene räumliche Lösungen sowie gegebenenfalls für den Transport der Mitarbeiterinnen zu. Private Arbeitgeber stellen daher bevorzugt Männer ein.

Angesichts der vielfältigen Barrieren ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeitslosenquote für Frauen bei rund 35 Prozent liegt, obwohl sie mittlerweile im Durchschnitt über höhere Bildungsabschlüsse verfügen als Männer.

Der Arbeitsmarkt in Saudi-Arabien ist in hohem Maße inflexibel und behindert die Diversifizierung und Modernisierung der Wirtschaft. Traditionelle Rollenbilder und kulturelle Werte ebenso wie falsche Anreizstrukturen schränken die Mobilität einheimischer Arbeitskräfte ein. Das "Saudisierungsprogramm" mit seinem Quotensystem ist eine bürokratische Lösung, die nicht nur leicht umgangen werden kann, sondern auch kompliziert und teuer ist.

Damit steht die nach wie vor traditionell geprägte Gesellschaftsordnung Saudi-Arabiens einer wirtschaftlichen Erneuerung des Landes im Weg. Das Aufbrechen dieser verkrusteten Strukturen kann angesichts der starken Rolle der Geistlichkeit und der in der Bevölkerung tief verwurzelten traditionellen Werte nicht ohne soziale Spannungen vonstatten gehen. Schließlich steht das Königreich vor der größten Transformation seiner Geschichte. Die ungewöhnliche Verhaftungswelle, der mehrere potenzielle Dissidenten sowohl aus dem religiösen Lager als auch der Geschäftswelt zum Opfer fielen, zeigt, dass sich die Regierung weniger sicher fühlt, als sie Glauben macht.

Nassir Djafari

© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2017

Nassir Djafari ist Ökonom und freier Autor.