„Ein existentieller Kampf zur Verteidigung unseres Erbes“
Schauplatz ist das armenische Viertel in der sonst stillen südwestlichen Ecke der Altstadt Jerusalems. In Sichtweite von Kloster und Jakobuskathedrale steht ein Rohbau aus Pressplatten, mit Sofas und Teppichen, einer provisorischen Küche, Wasservorräten und Heizgeräten. Seit mehr als acht Monaten halten junge Armenier, überwiegend Männer, Tag und Nacht hier Wache. An den Wänden Slogans („Schützt das Erbe unserer Ahnen!“) und eine historische Karte mit den Routen, auf denen Armenier in den Jahren 1915 und 1916 vor dem Genozid im Osmanischen Reich flüchteten. Eine der Routen führte nach Jerusalem. Draußen Überwachungskameras, nach allen Seiten gerichtet, um rechtzeitig gewarnt zu sein, wenn wieder Gangs aggressiver Siedler anrücken.
„Die Siedler wollen die Altstadt judaisieren“, so fasst Hagop Djernazian, Sprecher des Camps, die Lage zusammen. Der selbstbewusste 24-Jährige studiert an der Hebräischen Universität Internationale Beziehungen, spricht Armenisch, Arabisch, Hebräisch, Englisch. Djernazian und seine Mitstreiter sehen sich in einem doppelten Kampf: gegen jüdische Hooligans, die im Viertel ihr Unwesen treiben, sogar Priester bespuckten, und gegen die Willfährigkeit des armenischen Patriarchats, das 2021 einem jüdischen Investor heimlich wertvollen Boden im Viertel überlassen wollte.
Ein Kirchenkrimi; er dreht sich um den Cow Garden, eine Asphaltfläche, wo einst Kühe weideten, damit die Mönche ihre Milch bekamen, ferner um ein Priesterseminar sowie Wohnungen. Insgesamt ein Filetgrundstück für ein Hotel oder Luxusapartments, betrieben von Unternehmen, die Siedlern nahestehen. Als der Geheimdeal ruchbar wurde, erhob sich die Gemeinde in Aufruhr. Eilends kündigte das Patriarchat den Vertrag, nun ist die Sache vor Gericht. Dort klagt zusätzlich die Basis: Der Patriarch sei nach der Verfassung der Gemeinde gar nicht berechtigt, uralten Kirchenbesitz in fremde Hände zu geben.
Die Kluft zwischen den Laien an der Basis und dem Patriarchat, das auch als zivile Obrigkeit fungiert, hat eine spezielle Note: Die Kleriker kommen in der Regel von außerhalb, von theologischen Hochschulen. Einkünfte zu generieren hat für sie mehr Bedeutung als Lokalpatriotismus. Ein Priester, der als Sündenbock des Amtes enthoben wurde, flüchtete in die USA.
Wem gehört die Altstadt?
Armenisches Leben in Jerusalem reicht bis ins vierte Jahrhundert zurück, als die ersten Pilger zu den heiligen Stätten der Christenheit kamen. Das Patriarchat war zeitweise die höchste Autorität für Armenier von Zypern bis Ägypten. Heute zählt die Gemeinde in der Altstadt kaum mehr als 2.000 Menschen, doch der Konflikt, der sich hier abspielt, hat über die Armenier hinaus Bedeutung. Die Gier von Siedlergruppen und ihnen nahestehenden Firmen nach Immobilien in der Altstadt hat bereits andere Gemeinden in Nöte gebracht. In der griechisch-orthodoxen Kirche stürzte darüber sogar ein Patriarch, dennoch konnte die Gemeinde den Verlust von Eigentum nicht aufhalten.
Auch darum mobilisieren die Armenier nun mit so viel Energie: Das Ringen vor Gericht kann noch Jahre dauern, derweil werden „Souveränität und Würde“ auf der Straße verteidigt. Aus einer Demonstration heraus gründete sich 2023 das Komitee „Save the Armenian Quarter“, es mobilisiert über soziale Medien Solidarität, Sympathie und Geld. Das Protest-Camp mit der Dauerwache entstand im November 2023, nachdem bewaffnete Siedler mit einem Bulldozer angerückt waren. Diese wollten nicht hinnehmen, dass der Streit um die Immobilie nun vor Gericht ausgetragen wird, und versuchten deswegen, mit Gewalt Fakten zu schaffen.
Die israelische Polizei verhaftete nicht etwa die Übeltäter, sondern einige Armenier, die mit ihren Körpern den Kirchenbesitz schützten. Seit diesem Tag markieren Barrikaden die Grenzen des zu verteidigenden Areals, und aus dem Bauschutt, der nach der Konfrontation zurückblieb, häuften die Aktivisten einen kleinen symbolischen Berg Ararat an, mit armenischer Flagge.
Blind für die eigene Geschichte
Am 24. April wird weltweit der Ermordung der Armenier vor 100 Jahren gedacht. Auch in Deutschland ist ein Gedenkgottesdienst geplant. Doch Kritiker meinen, dass man sich hierzulande intensiver mit der Rolle des deutschen Kaiserreichs als Verbündeter des Osmanischen Reichs und den nicht aufgearbeiteten Massakern beschäftigen sollte. Von Ceyda Nurtsch
„Jerusalem ist meine Identität”
An der Frage, ob sich Armenier als Palästinenser verstehen, scheiden sich im Camp die Geister. „Nein“, sagt Hagop Djernazian. „Ich bin Jerusalemer, Jerusalem ist meine Identität. Punkt.“ Anders sein Mitstreiter Sertrag Balian, eine grazile Gestalt mit nach hinten gebundenem langem Haar; er sei armenischer Palästinenser.
Balian, der Name steht für Jerusalems berühmtestes Keramikstudio. Sertrag Balians Vorfahren kamen als Überlebende des Genozids mitsamt ihrer Kunstfertigkeit, später verschmolzen sie anatolisches Design mit levantinischen Motiven, so entstanden die geschätzten Jerusalemer Keramiken. Sertrag führt das Gewerbe in vierter Generation fort, und so kann man ihn morgens als Leiter eines Keramikworkshops erleben, am Nachmittag referiert er von einem Balkon aus in einem Live-Webinar auf Instagram vor jungen Armeniern in Frankreich über „den Kampf gegen Polizei, Siedler, religiöse Extremisten und Kolonisatoren“. Balian spricht Französisch, seine fünfte Sprache.
Dass er sich als Palästinenser sieht, ist nicht nur ein politisches Statement, sondern entspricht einer historischen Perspektive. Vor dem Eintreffen der britischen Kolonialmacht, die Ethnien und Religionen gern separierte, verstanden sich die Armenier im Osmanischen Reich als Teil der arabisch-palästinensischen Gesellschaft, schreibt der US-armenische Historiker Bedross Der Matossian, ein gebürtiger Jerusalemer. Arabisch war damals die Erstsprache der Armenier, sie waren Barbiere, Schuster und Schneider. Nach 1915 veränderte der Zustrom Geflüchteter das Gesicht der Gemeinde: Die Alteingesessenen wurden zur Minderheit gegenüber den Türkisch sprechenden Neuankömmlingen.
Die Flucht nach der Flucht
Eine armenische Moderne begann im Jerusalem der 1930er Jahre, als sich ein wohlhabendes Bürgertum außerhalb der Altstadt Wohngebiete mit Muslimen und mit Christen anderer Konfession teilte, durch ähnlichen Lebensstil verbunden. Die Zeit der Prosperität endete abrupt mit der israelischen Staatsgründung 1948 und dem folgenden jüdisch-arabischen Krieg. Als in West-Jerusalem die palästinensische Oberschicht aus den Vierteln Talbiya und Qatamon vertrieben wurde, verloren auch ihre armenischen Nachbarn Häuser und Geschäfte. Tausende verließen das Land; eine Generation nach dem Genozid waren sie erneut zu Flüchtenden geworden.
Die historischen Traumata prägen den Weltblick und die Tonlage der heutigen jungen Generation. Ihre Sprache ist zugleich aktivistisch und pathetisch, voller Stolz auf die lange spirituelle Tradition in Jerusalem, doch unterlegt mit dem Gespür für das Gefährdetsein. „Dies ist ein existentieller Kampf zur Verteidigung unseres Erbes“, sagt Hagop Djernazian.
Was den Genozid an den Armeniern betrifft: Für die palästinensische Bevölkerung ist er eine historische Tatsache, doch das offizielle Israel erkennt den Völkermord nicht an; der Begriff ist dem Holocaust vorbehalten. Man kann ermessen, was es für Armenier bedeutet, wenn sie von Siedler-Hooligans heute hören: „Ihr gehört hier nicht hin, ihr habt kein Recht, hier zu leben. Wenn der Messias kommt, werden wir euch alle töten.”
Hass gegen alles Nichtjüdische
Die Altstadt gehört zum besetzten Ostjerusalem, das von Israel 1980 annektiert wurde – eine Maßnahme, die im Rest der Welt nie als legal anerkannt wurde. Vor kurzem stellte der Internationale Gerichtshof zudem fest: Die Besatzung an sich ist völkerrechtswidrig. Die Altstadt ist also ein doppelt illegal überschriebener Raum. Radikale Siedler ficht das nicht an, im Gegenteil: Der rechtsnationale Kurs der Netanjahu-Regierung bestärkt die sogenannte „Hügeljugend“ aus den Siedlungen, ihren Hass auf alles Nichtjüdische auszuleben.
Der Schlachtruf „Brennt es nieder“ war zuerst auf Dörfer in der Westbank gemünzt, nun ist er auch in der Altstadt zu hören. „Möge es niederbrennen“, riefen jüdische Rowdies beim Überfall auf die Armenian Tavern, ein alteingesessenes Restaurant nahe dem Konvent und nur wenige Meter von einer Polizeistation entfernt. Mit Hoodies über den Schläfenlocken versprühten die Eindringlinge Pfefferspray, zerschlugen Mobiliar. Sie kamen gleich zweimal in einer Woche; so sicher fühlten sie sich.
Diese Art der Gewalt sei in der Altstadt neu, meint der jüdische Jerusalem-Experte Daniel Seidemann; als Jurist und als Privatmann versucht er mit Leidenschaft, die städtische Vielfalt gegen zionistische Herrschaftsansprüche zu verteidigen. „Eine ganze Community physisch einschüchtern wollen, das übersteigt alles, was wir bisher erlebt haben“. Seidemann ist wie andere Vertreter der jüdischen und palästinensischen Zivilgesellschaft zu einem Solidaritäts-Dinner auf dem Gelände des Protestcamps gekommen. Die Zusammenkunft im Abendlicht ist getragen von der Überzeugung: Der Kampf der Armenier geht sie alle an. „Lasst uns zusammenstehen“, sagt Hagop Djernazian, „für ein humanes, multikulturelles Jerusalem.“
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Die Journalistin und Autorin Charlotte Wiedemann beschäftigt sich vor allem mit Gesellschaften außerhalb Europas und ihren Konflikten mit dem Westen. Ihre jüngste Veröffentlichung auf Deutsch ist „Den Schmerz der Anderen begreifen: Holocaust und Weltgedächtnis“.