Ein Volk am Abgrund
Während das Damaszener Altstadtviertel Bab Touma aus allen Nähten platzt und die Restaurants bis tief in die Nacht mit plappernden Menschen gefüllt sind, tobt ein Krieg, wie ihn die Arabische Republik Syrien seit ihrem Bestehen 1946 noch nicht erlebt hat. Und als sich dieser Krieg am Wochenende vom 28./29. Januar der Hauptstadt Damaskus näherte, waren die Bombardements im Vorort Jobr auch in Bab Touma zu hören. Doch dies schien kaum jemanden zu stören - die Angst vor dem, was nach einem Regimesturz kommen könnte, scheint tief zu sitzen.
Eine junge Journalistin macht dafür vor allem die Opposition verantwortlich: "Bislang trat kein einziger Opponent vor die Kamera und beantwortete die Fragen, die die Menschen bewegen: Was wird aus uns? Werden sich die aufständischen Sunniten an den schweigenden Minderheiten vergehen? Kommen die Islamisten? Werden alle Frauen gezwungen, eine Abbaya zu tragen? Und: Wer gibt uns Arbeit?"
Letzteres treibt auch jene sunnitische Mittelschicht um, die im Prinzip das begrüßen würde, was die Muslimbrüder, die den Syrischen Nationalrat dominieren, anstreben: eine "progressive Islamisierung" der Gesetze. Zugleich aber profitiert diese Schicht von der Wirtschaftsliberalisierung, die Baschar al-Assad seit seinem Amtsantritt 2000 entschieden vorantrieb. Etwa Ahmad Suffaq, der Baumaterialien importiert, was einst nur staatlichen Stellen vorbehalten war. Für ihn ist der Nationalrat ein rotes Tuch: "Viele seiner Mitglieder wollen unser Land Ausländern überantworten. Soll ich mich etwa von Obama und diesem Zwergstaat Qatar regieren lassen?"
Hinzukommt, fügt die Journalistin an, "dieser erbärmliche Krieg an Egos, der im Rat tobt". Wie zum Beweis veröffentlicht tags darauf der 30-jährige Ratsangehörige Mohammad al-Abdallah, der in Washington lebt und ein gern gesehener Interviewpartner bei Al-Jazeera und CNN ist, auf seiner Facebook-Seite ein Statement. Darin prangert er den Ratsvorsitzenden Burhan Ghalioun an, weil dieser sein Mobiltelefon abgeschaltet und nicht auf Abdallahs Forderung nach einer Bewaffnung der Opposition reagiert habe.
"Es gibt keine Freie Syrische Armee"
Doch sind die Waffen nicht bereits im Land? Macht doch die Rede von Salafisten und von al-Qaida-nahen Kämpfern, die mit Hilfe Qatars und westlicher Staaten geschult und aus dem Irak und Libyen eingeschleust werden, die Runde. Danach befragt zucken inländische Experten die Achseln.
"Natürlich gibt es solche Kräfte in Syrien. Noch aber stellen sie keine ernste Bedrohung dar", erklärt ein Politologe. "Allerdings", setzt er nach, "können sie gefährlich werden, wenn sie so stark gefördert werden, dass ihnen die Freie Syrische Armee folgt."
Diese bilde das größte Risiko für einen Bürgerkrieg: "De facto gibt es nämlich keine Freie Syrische Armee, sondern unzählige Armeen. Jede von ihnen besteht aus einer Handvoll Deserteure, die meist nur die Waffen besitzen, die sie bei ihrer Flucht mitgenommen haben und die über keinerlei Nachschub verfügen", meint der Politologe. "Diese Fraktionen verfügen über keine einheitliche Führung, ja sie koordinieren sich untereinander nicht einmal. Geschweige denn, dass sie einen Plan für die Zukunft hätten. Ihr einziges Ziel lautet: ‚Regimesturz!‘ Und sie sind bereit, jedem zu folgen, der ihnen das Erreichen dieses Zieles verspricht. Es ist eine Katastrophe."
Perfides Spiel von Al-Jazeera
Dabei gäbe es im Land Stimmen, die hörenswert wären. Etwa im Nationalen Koordinationskomitee für den Demokratischen Wandel (NCC), das aus linksgerichteten und kurdischen Parteien besteht. Oder in der Organisation "Aufbau des syrischen Staates". Beide Gruppierungen sowie die ihnen nahestehende unabhängige Personen, wie der nach Frankreich geflüchtete Michel Kilo, vertreten die Linie eines unbewaffneten Aufstandes, der eine innersyrische Lösung sucht und dabei Verhandlungen mit dem Regime nicht per se ausschließt.
Doch auch unter diesen Oppositionellen bestehen Differenzen. Zudem wurden sie alsbald vom Nationalrat überrollt, dem vor allem Al-Jazeera nahezu tägliche Auftritte einräumt.
Und dies aus drei Gründen: Der Nationalrat wird von den Muslimbrüdern geprägt und Al-Jazeera steht den Islamisten sehr nahe. Zweitens wird der Sender vom Emir von Qatar gesteuert, dem gegenwärtig schärfsten Gegner des syrischen Regimes. Dies ließe darauf schließen, dass Qatar den Regimesturz sucht. Doch weit gefehlt: Erwünscht ist lediglich dessen Destabilisierung, da auch Qatar um den möglichen regionalen Flächenbrand nach einem syrischen Totalkollaps weiß. Infolge präsentiert Al-Jazeera bevorzugt Stimmen, die zwar ketzerisch tönen, letztlich aber nur Luftblasen produzieren. Vernünftigere Köpfe, wie die der zuvor genannten Gruppierungen, werden hingegen gemieden, könnten sie doch dem Regime ernstlich schaden.
"Das Märchen von Homs"
Dies aber ist nicht das einzige, das Al-Jazeera, aber auch Sender wie Al-Arabiyya, France 24 und teilweise BBC Arabic ausblenden. "Wenn heute Drusen oder Kurden demonstrieren, läuft das praktisch über keinen Sender. Es passt offensichtlich nicht in das übergreifende Programm, das einen reinen Sunniten-Schiiten-Clash suggerieren will", erklärt ein NCC-Mitglied.
Dies reflektiere die Wahrheit des Geschehens aber ebensowenig wie die permanente Rede von der "revoltierenden 1,2-Millionen-Stadt Homs". "Prompt glaubt jeder, ganz Homs sei auf den Beinen. Tatsächlich aber sind es bestimmte Viertel, die zu Fuß zurück zu legen sind."
Dies freilich impliziere einen weiteren Aspekt: "Befänden sich auf dieser kleinen Fläche tatsächlich al-Qaida-Kämpfer, israelische Waffen oder sonstiges, wie das Regime behauptet – glauben Sie mir, dann würden diese Viertel nicht nur beschossen, sondern dem Erdboden gleich gemacht." Dies aber sei nicht das Ziel: "Vielmehr will das Regime böses Blut und Rachefeldzüge zwischen den diversen Vierteln und Konfessionsgruppen schüren."
Wachsende Kriminalität
Auch über eine andere Entwicklung scheint das Regime nicht unglücklich: Die Kriminalität steigt. So verlassen etwa in Yabroud, einem 50.000-Einwohner-Städtchen in den Bergen 80 Kilometer nordöstlich von Damaskus, die Menschen ab drei Uhr nachmittags ihre Häuser nicht mehr. Denn nach Ende der Bürozeiten beginnen Banden, die mit dem Regime nichts zu tun haben, ihr Unwesen zu treiben: Autos werden gestohlen, Läden geplündert oder Kinder gegen Lösegeld entführt.
Was in Yabroud und anderenortes um sich gegriffen hat, ohne dass die Polizei einschritt, setzt auch im noch ruhigen Damaskus ein. Unter anderem wurde jüngst einer Christin, die abends die Kirche verließ, das goldene Anhängerkreuz vom Hals gerissen – von einem anderen Christen.
Es scheint, dass das Regime zufrieden sein kann. Seit über 40 Jahren hat es die Menschen auf Angst, Unwahrheit, Lügen und gegenseitiges Misstrauen programmiert. Und das Programm läuft, zumindest momentan, perfekt!
Albert Kadir
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de