Zärtlicher Blick auf kurdische Realitäten
Vier Männer mit Anzug und Krawatte sind in einer kargen Landschaft zum Fahnenappell angetreten. Die Körper stramm, die Blicke streng nach oben gerichtet. Einer hisst eine Fahne, die über ihren Köpfen, außerhalb des Bildes, weht. Die Hälse der Männer stecken in klobigen medizinischen Halskrausen. „The Flag“, heißt das Bild, "die Flagge“. Es stammt von dem kurdischen Künstler und Schriftsteller Şener Özmen und entstand 2010. Özmen wurde 1971 im südostanatolischen İdil an der Grenze zu Syrien geboren. In seinen politischen Werken stellt er Autoritäten und Tabus in Frage, immer mit einem subtil-ironischen Blick.
Özmen ist einer von 13 Künstlern hinter der Ausstellung "bê welat – the unexpected storytellers" in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin. Viele Menschen verbinden mit "dem Kurdischen“ vor allem Politik. Es steht dann für Krieg, Aktivismus und Widerstand. Die künstlerische Auseinandersetzung etwa mit dem Verbot, die eigene Muttersprache zu sprechen, mit Traumata und Exil, ist da eher "unexpected“, unerwartet. Und genau diesen vermeintlich unerwarteten Blick kurdischer Künstlerinnen und Künstler wollen die Kuratoren der Ausstellung einfangen.
Jenseits von Nachrichtenschlagzeilen zu Krieg, Guerilla, Tod, Terrorismus und Freiheitskämpfern stellen sie die Frage: Wie verarbeiten kurdische Künstlerinnen und Künstler ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten? Wie antworten sie auf den Druck zur Assimilierung und auf Fremdzuschreibung? Im Zentrum der Ausstellung steht der Zustand des "bê welat“, der Heimat- und Staatenlosigkeit.
Die eigene Erzählung darstellen
Eine der Kuratorinnen von »bê welat – the unexpected storytellers« ist die Kulturwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin Duygu Örs. "Was uns bei dieser Ausstellung wichtig war und was wir sehen wollten, ist: Wie sieht das aus, wenn wir Kurdinnen und Kurden selbst den Rahmen unserer Erzählungen kuratieren? Was ist das für ein kulturelles Erbe, das immer von Anderen, aber ohne uns dargestellt wird? Deshalb sind wir aus unseren verschiedenen Perspektiven zusammengekommen.“
Zu den Schwerpunkten der Ausstellung, so sagt sie, gehöre die Beschäftigung mit der Frage: Wie setzt sich die Kunst mit dem Territorialen auseinander? Das kann etwa geschehen mit der Darstellung eines schrägen Wohnraums, der den Blick des Betrachters von drinnen nach draußen lenkt. Oder mit dem Bild eines häuslichen Gegenstandes, der zum politischen Symbol wird. Gleich zu Beginn der Ausstellung ist ein Kunstwerk zu sehen, das aus einer dicken bunten Wolldecke besteht. Decken dieser Art sind in vielen Haushalten in der Kurdenregion zu finden. Familien benutzen sie, um sich während der kalten Winter zu wärmen, aber auch um ihre Toten provisorisch darin einzuwickeln. Hier ist die Decke zu einem Dreieck gefaltet. Die Ähnlichkeit zu einer in Dreiecksform gefalteten US-Flagge ist nicht zu übersehen.
"Diese Decke hält die Toten nicht warm“ heißt das Werk. Es stammt von der in Nashville, USA, lebenden Künstlerin Nuveen Barwari und entstand im Jahr 2019. Zu dem Zeitpunkt hatte der damalige Präsident Trump erklärt, die US-Truppen aus Rojava in Nordsyrien abzuziehen, und damit der türkischen Armee grünes Licht für ihren Einmarsch gegeben.
Ein zärtlicher Blick auf die harte Realität
Gleich dahinter hängt das Foto einer Gaststätte in Großformat. Ein leerer Tisch mit Stühlen ist vor einer weiten, hügeligen Landschaft zu sehen. Die Fotografie stammt von der Berliner visuellen Künstlerin und Art Direktorin Elif Küçük, die die Ausstellung mit kuratiert hat. Entstanden ist das Bild 2019 in Dersim in der kurdisch geprägten Region der Türkei. Damals besuchte Küçük den Ort gemeinsam mit ihrem Vater, der die Heimat vor 40 Jahren verlassen hatte. "Für mich, aber auch für meinen Vater, bestanden diese Orte eigentlich nur aus dem, was einmal war: aus Verschwundenem, Zerstörtem und Sehnsüchten”. Diese Gefühle hat sie mit ihrer Kamera eingefangen.
Die Scham darüber, zu den Menschen zu gehören, die keine Gewalt erfahren mussten, und das daraus wachsende Pflichtbewusstsein seien in ihr Bild eingeflossen, erklärt sie. Trotzdem strahlt das Foto Wärme aus. "Ich wollte der harten Realität etwas Weiches entgegensetzen“, so Küçük, "einen zärtlichen Umgang miteinander.“
Einen anderen Blick auf die Auseinandersetzung mit der Realität des Exils liefert Beizar Aradini, 1991 in Mardin im Südosten der Türkei geboren. 1992 zog sie mit ihrer Familie ebenfalls nach Nashville in den USA. In ihren Werken steht die Frage nach Zugehörigkeit im Mittelpunkt. Auf hauchdünnen Stoffen hat sie Familienfotos nachgestickt. Die amerikanisierte Familie auf einem Gruppenfoto, eine Gruppe von Frauen beim Tanzen. Federleicht wehen sie, an durchsichtigen Fäden aufgehängt, im Wind, die Stickfäden hängen heraus. Der Besucher läuft zwischen ihnen hindurch. Indem Aradini die Stoffe bestickt, greift sie in Zeiten kultureller Assimilierung und Vertreibung eine alte Familientradition auf. Ihre Kunst, so erklärt sie, entstehe im Spannungsfeld zwischen den verschiedenen Orten und Kulturen. Immer stehe hinter ihren Werken das Gefühl, weder der einen noch der anderen Kultur zu genügen.
"Wenn ich mit der Nadel dieselben Bewegungen wiederhole, wie meine Vorfahren sie immer machten, wird der Faden zu einer neuen Sprache zwischen meinen Eltern und mir. Er wird zu einer Brücke zwischen Generationen in der Diaspora. Der starke Faden hält die ausgefransten Teile meiner kurdischen Identität zusammen. Dadurch zeige ich das vielfältige Leben von kurdischen Frauen, die migrieren mussten oder vertrieben wurden.“
Kunst als eine Antwort auf den Krieg
Die ausgestellten Bilder, Video- und Klanginstallationen der kurdischen Künstlerinnen und Künstler zeigen eine ganz eigene künstlerische Sprache. Weder klagen sie an, noch stellen sie sich als Opfer dar. Vielmehr oszillieren sie in einem eigenen Raum, der bei aller Abbildung der Realität nicht dokumentarisch, sondern sehr persönlich und künstlerisch ist. Das bestätigt auch Engin Sustam, der das Projekt mitinitiiert hat. Als Mitglied der Initiative "Akademiker für den Frieden“ setzt sich Sustam gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung im Südosten der Türkei ein. Er lebt und arbeitet im Pariser Exil.
"Für die Künstler der 1990er Generation spielte politischer Widerstand eine große Rolle“, sagt er. "Die jüngere Generation ist subjektiver. Sie bezieht mit ihrem künstlerischen Schaffen Stellung zu Themen wie Militarismus, Patriarchat, Frauenmorden oder Umweltzerstörung. Ihre Werke sind der Versuch, eine Antwort auf Krieg, Militarismus und Gewalt zu finden.“ Vielleicht gelänge ja der Kunst ein erfolgreicher Friedensprozess, so Sustam. "Vielleicht,“ sagt er, "ist es ja die Kunst, die uns retten wird.“
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Die Ausstellung "bê welat – the unexpected storytellers" ist noch bis zum 15. August in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin zu sehen. Zur Ausstellung gibt es ein Begleitprogramm mit Gesprächen mit den Künstlerinnen und Künstlern, Filmemachern, Musikern und Akademikern. Weitere Informationen unter: https://ngbk.de/de/show/500/be-welat-the-unexpected-storytellers