Trost aus den Klängen der Heimat

Die Sängerin Aynur Doğan bewahrt und erweitert seit Jahren die Möglichkeiten der traditionellen kurdischen Musik und gibt damit ihren Landsleuten eine Stimme. Nun hat sie ihr siebtes Studio-Album herausgebracht. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Alles beginnt mit einer Klaviermelodie, über die sich plötzlich eine sehnsuchtsgeladene Frauenstimme legt. Seufzend und träumerisch scheint sie allen Schmerz und Kummer der Welt in sich zu vereinen. Beim Hören von “Rabe hîv e”, einer alten kurdischen Volksweise, scheint es, als täte sich plötzlich das Panorama der weiten verlassenen Ebenen und schroffen anatolischen Gebirgslandschaften vor einem auf.

Vor dem geistigen Auge entstehen Bilder aus jener Region in der Osttürkei, in der die kurdische Sängerin Aynur Doğan aufgewachsen ist.

Das Lied handelt vom melancholischen Zauber einer mondscheinbeleuchteten Nacht und der Erinnerung an den oder die angehimmelte Geliebte. Die seichten, mit Jazzelementen versetzten Pianoklänge mischen sich hervorragend mit dem satten Timbre von Aynur Doğans Stimme.

Uralte Klänge und Melodien, die aus einer längst verflossenen Zeit zu stammen scheinen, verschmelzen bald ungezwungen zu einer Einheit mit den modernen Akzenten von Klavier, Violinen und Schlagzeug. Im zweiten Track “Hedûr” sprüht die Musik nur so vor Energie und tanzhaftem Elan, es folgen Tremolos aus einer elektronischen Bağlama-Laute und die typisch synkopische Stimmführung von kurdischer Volksmusik.

“Ich wurde nicht mit Trauer geboren / Ich war bereit für meine Mitgift / War ich es oder war ich es nicht? / Lass mich sein, lass mich nicht sein”, beginnt die erste Strophe von Aynur Doğans Stück “Hedûr”.

Ihr neues Album, das siebte, trägt denselben Titel. “Hedûr” bedeutet auf Deutsch “Trost spenden” oder "Trost in der Zeit finden”, und ist wie eine Nacherzählung mancher Enttäuschungen und Schicksalsnöte des kurdischen Volkes. Gleichzeitig kann “Hedûr” aber auch als Klage über den Zustand der ganzen Menschheit verstanden werden.

 

“‘Hedûr‘ ist die Suche nach innerem Frieden mit den Klängen meiner Muttersprache und der Musik der Menschheit. (…) 'Hedûr' ist ein Wort im Kurdischen, das bedeutet, Trost in der vergehenden Zeit zu finden. Es bezieht sich auch darauf, sich selbst zu entdecken, inneren Frieden zu finden und im Gleichgewicht zu bleiben”, sagt Doğan über ihr Album.

Botschafterin des kurdischen Volks

Aynur Doğan ist in den fast zwanzig Jahren ihrer Karriere zweifellos zu einer der wichtigsten Botschafterinnen des kurdischen Volkes auf internationalen Bühnen geworden. Sie trug kurdische Volksmusik immer wieder in die internationalen Bestsellerlisten und leistete ihren Beitrag dazu, dass kurdische Musik in den letzten Jahren selbst in der Türkei ein zögerliches Comeback erfuhr — trotz aller Repressalien und traumatischen Erinnerungen an die Zeiten, in denen kurdisches Kulturerbe in der Türkei systematisch verdrängt wurde.

“Hedûr” schaffte es im März auf den ersten Platz der “Transglobal World Music Charts”. Zu Recht, denn das Album zeigt, wie weit Doğans musikalische Entwicklung gereift ist: Bei diesem Album tritt sie nicht nur als Sängerin auf, sondern auch als Produzentin und Komponistin.

Neben dem traditionellen Repertoire stammen einige der Lieder aus ihrer eigenen Feder. Wie schon auf Weltmusik-Festivals in der Vergangenheit beweist Doğan ihren Mut zur Innovation und Fusion verschiedener Elemente. Gemeinsam mit dem deutschen Jazzpianisten Franz von Chossy befördert sie die eigene Musiktradition selbstbewusst ins 21. Jahrhundert. Bei einem Track spielt Aynur überraschenderweise selbst Tembur, die kurdische Laute.Das Album enthält auch Lieder mit Texten von Hüseyin Erdem, einem kurdischen Autor im deutschen Exil und Mitbegründer des kurdischen PEN-Zentrums. Unter einem Video von einem Konzert von Doğan in Wien aus dem Jahr 2018 ist ein Kommentar zu lesen, der sich sinngemäß immer wieder unter ihren Videos findet: “Wir sind zu Kindern geworden, die unfähig sind, Kurdisch zu sprechen, von Eltern, die kein Türkisch sprechen können.”

Die Bemerkung reflektiert das Gefühl einer ganzen Generation junger Kurden, die sich ihrer Wurzeln entrissen fühlen und mehr noch, wenn sie in Europa leben, nach einer Verbindung mit der eigenen Heimat sehnen. Doğan ist ihre Stimme. Mit ihrer Musik verspricht sie, ihr Publikum für ein paar Momente zu den eigenen Ursprüngen mitzunehmen. Und so erzittert der ganze Saal bei ihren Liedern und die jungen Zuhörer tanzen zwischen den Sitzreihen den anatolischen Volkstanz Halay.

Aynur Doğan wurde 1975 in der osttürkischen Kleinstadt Çemişgezek geboren, die einst von armenischem Kulturerbe geprägt war und in der heute die Traditionen der Aleviten lebendig sind. Çemişgezek liegt in der Provinz Tunceli, auch Dersim genannt, die in der Türkei immer noch vor allem mit den Erinnerungen an den Bürgerkrieg zwischen dem türkischen Staat und den Kurden verbunden ist.

Tunceli war in den Neunzigern eine der Hochburgen des kurdischen Widerstands. Doğan floh 1992 vor dem blutigen Krieg mit ihrer Familie nach Istanbul, lernte dort die türkische Laute Bağlama zu spielen, studierte dann in den neunziger Jahren Gesang und tauchte in die Musikszene der Metropole ein. Ihr erstes Album brachte sie im Jahr 2002 heraus.

 

Ein Hauch von Rebellion und Aufbegehren

Manche von Doğans Liedern tragen diesen Hauch der Rebellion, den Geschmack des Aufbegehrens gegen jene, die ihren Landsleuten die grundlegenden Rechte vorenthalten. Oft singt Doğan über das Leben und Leiden der Kurden, vor allem vom Schicksal kurdischer Frauen, wie zum Beispiel in ihrem ersten großen Hit “Keçe Kurdan” (2004).

Dort heißt es: “Mädchen, steht auf, lasst die Welt eure Stimme hören. (…) Wir sind die Rosen der Kurden. Wir haben aufbegehrt wegen der Unwissenden.” Das Lied rief in der Türkei mehrmals Kontroversen hervor, etwa 2009, als Anklage gegen einen Radiosender in der südtürkischen Stadt Adana erhoben wurde, der das Lied gespielt hatte. In der Begründung für die Anklage hieß es, man habe durch das Abspielen des Songs die Hörer aufwiegeln wollen.

Auch bei Auftritten in der Türkei erfuhr Doğan manchmal Widerstand, wurde von ihrem Publikum für das Singen in kurdischer Sprache ausgebuht. Noch heute gehört Doğan für die türkische Regierung zu den eher ungemütlichen Künstlern — so kommt es, dass sie viel häufiger in Europa auftritt als in ihrem Heimatland.

Seit Jahren arbeitet Doğan im Westen mit namenhaften internationalen Künstlern zusammen wie dem Silk Road Ensemble, dem kurdisch-iranischen Kniegeigenspieler Kayhan Kalhor oder dem berühmten Cellisten Yo-Yo Ma.

Dieser sagte einmal, “Aynurs Stimme zu hören, bedeutet, die Verwandlung aller Schichten menschlicher Freude und menschlichen Leids in einen einzigen Klang zu erleben. Ihre Stimme reicht so tief in unsere Seele hinein, sie setzt sich in unseren Herzen fest, und dann sind wir für einen Moment zu einer Einheit verbunden.”

Verdienste um die Erhaltung kurdischer Kultur

In Fatih Akıns Dokumentarfilm “Crossing the Bridge / The Sound of Istanbul” wiederum trat Doğan als eines der prominentesten Gesichter in Erscheinung. Seit Jahren ist sie eine der Stammgäste auf dem renommierten Osnabrücker Morgenland Festival.

 

2017 wurde ihr für ihre kulturübergreifende Arbeit und die wegweisenden Leistungen für die Erhaltung kurdischer Kultur der "Master of Mediterranean Music"-Preis des Mediterranean Music Institute am Berklee College of Music in Boston, Massachusetts (USA), verliehen.

Für Februar 2020 hatte Doğan zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder Auftritte in der Türkei geplant. Neben Istanbul sollte sie in neun weiteren Großstädten zu sehen sein, auch in den kurdischen Metropolen Mardin und Diyarbakır.

Es hätte gewissermaßen eine Reise zurück zu den Anfängen ihrer Karriere sein sollen. Sämtlich Konzerte waren schnell ausverkauft. Dann jedoch musste die gesamte Tour wegen des Angriffs der syrischen Armee auf türkische Soldaten in Idlib auf den April diesen Jahres verschoben werden.

Anschließend erreichte das Coronavirus die Türkei und es gab eine zweite Absage. Bisher ist unklar, wann die Tour stattfinden kann. Unterdessen scheint der Titel des neuen Albums, “Trost in der Zeit finden”, ganz und gar wie auf diese außergewöhnlichen Zeiten zugeschnitten.

Marian Brehmer

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