Ein anderer Blick auf Israel
Die öffentliche Diskussion nach dem Rücktritt von Museumsdirektor Peter Schäfer überlagert derzeit die Wahrnehmung der sehr sehenswerten Gast-Ausstellung „This Place“ im Jüdischen Museum Berlin. Die ausgestellten 200 Foto- und Videoarbeiten präsentieren ein multireligiöses Israel mit unterschiedlichsten Menschen, die in Israel und im Westjordanland leben: Juden, Christen, Muslime, Kopten, Drusen, Palästinenser und viele andere. Initiator Frédéric Brenner war ein kosmopolitischer, internationaler Ansatz bei der Auswahl der Arbeiten besonders wichtig.
Brenner ist ein international bekannter Fotograf, der selbst in vielen Galerien und Museen ausstellt. Während der Arbeit an seinem Projekt "This Place" habe er allerdings viele Hüte aufgehabt, erzählt er im Interview mit der Deutschen Welle: "Ich war Manager, Kurator, Reiseleiter, technischer Assistent, Fundraiser und vieles mehr. Für meine eigene Arbeit blieb manchmal nur wenig Zeit."
Brenner wurde 1959 in Frankreich geboren. Als professioneller Fotograf widmet er sich hauptsächlich jüdischem Leben - in Israel und anderen Ländern weltweit. Seine bekannteste Arbeit ist "Diaspora": 25 Jahre lang porträtierte er jüdische Gemeinschaften in mehr als 40 Ländern. Themen wie Heimat, Zugehörigkeit, Ausgrenzung, Gemeinschaft und Religiosität beschäftigen ihn nicht nur als Fotokünstler.
Keine künstlerischen Vorgaben
2005 reifte die Idee für sein ambitioniertes Fotoprojekt "This Place", das Künstler unterschiedlicher Nationalität, Religion und biografischer Prägung zusammengebracht hat. Jeder durfte aus seinem eigenen kulturellen und religiösen Hintergrund heraus das Land Israel erkunden und seine Motive selbst wählen. Der subjektive Blick war ausdrücklich erwünscht.
Es gab weder zeitliche noch inhaltliche Vorgaben. Einzige Einschränkung: Israelische und palästinensische Fotografen sollten nicht dabei sein. "Wir wollten Leute mit einem frischen Blick, die nicht in den täglichen politischen Konflikt in Israel involviert sind", erzählt Brenner.
Es brauchte viele Jahre intensiver Zusammenarbeit mit Kuratoren und mit dem Galeristen Brenners in New York, bis daraus ein künstlerisches Konzept wurde. "Ich wusste, ich würde Mitstreiter brauchen", sagt Brenner im Rückblick. „Künstler, die von Fragen getrieben sind und deren Arbeiten Risse und Paradoxien ausleuchten können."
Zwölf international renommierte Fotografen und Fotokünstler, Brenner eingeschlossen, bereisten für das Projekt immer wieder das Land Israel. Sie erkundeten mit der Kamera die höchst unterschiedlichen israelischen Landschaften und, nach interner Diskussion zwischen Projektleiter, Kurator und teilnehmenden Fotografen, auch das von Israel besetzte Westjordanland.
Von der kargen Negev-Wüste ganz im Süden über kleinere Orte und historische Städte wie Jerusalem, Ramallah oder Bethlehem bis hoch zu den Golan-Höhen an der Grenze zu Syrien und weiter zur Küstenstadt Tel Aviv waren die Fotografen unterwegs. Mal allein, mal im Team. Mit ihrem empathischen Blick auf Israel dokumentierten sie das faszinierende Puzzle einer multireligiösen Gesellschaft und die Vielfarbigkeit des Landes.
Einige von ihnen waren zum ersten Mal in Israel und haben erlebt, was es heißt, in einem von Religiosität und biblischer Geschichte durchdrungenen Land zu leben. Alle Teilnehmer konnten sich so viel Zeit nehmen, wie sie für ihre fotografischen Exkursionen benötigten. Finanziert wurde das aufwendige Projekt durch eine Stiftung.
Manche Fotografen reisten mehrfach für kürzere Stippvisiten nach Israel, andere blieben Wochen, sogar Monate im Land, um sich intensiv mit den von ihnen ausgewählten Protagonisten zu beschäftigen. Ihre Fotografien dokumentieren Israel in den Jahren 2009 bis 2014, die Auswahl hat jeder Künstler selbst getroffen. Seelenlandschaften einer Gesellschaft
Frédéric Brenner war es wichtig, den künstlerischen Blick von außen beizubehalten. Wobei Brenner - selbst Jude - als internationaler Fotograf mit wechselnden Wohnsitzen in Moskau, New York, Israel und aktuell in Berlin seine künstlerische Subjektivität im Gespräch einräumt. Seine Arbeiten spiegeln mit fast archäologischer Genauigkeit Orte und Seelenlandschaften dieses Landes und seines Volkes wider.
Von deutscher Seite ist der Fotokünstler Thomas Struth dabei. Der Vertreter der international bekannten "Düsseldorfer Schule" hat sich bei seinen Reisen nach Israel mit religiös und sozial aufgeladenen Orten beschäftigt, wie beispielsweise der Verkündigungsbasilika in Nazareth. Auf seiner großformatigen Fotoarbeit bekommt die berühmte Sehenswürdigkeit durch die martialische Betonkonstruktion an der Decke die Anmutung eines militärischen Bunkers.
Auch technologisch hochgerüstete High-Tech-Orte interessieren Struth. Ein futuristisches Versuchslaboratorium im "Plasma Lab" des Weizmann-Instituts in Rehovot, wo weltweit anerkannte medizinische Grundlagenforschung betrieben wird, bekommt aus dem Blickwinkel von Struth skulpturale Züge. "Mein Interesse oder mein Vorsatz ist, etwas anzusprechen, das ein größeres Ausmaß, einen größeren Wert hat als das spezifische Detail", sagt er.
Sechs Mal ist der Fotograf nach Israel gereist. Sein Bild von der abstrakt-modernen Architektur des Rathauses von Tel Aviv zeigt mehr als nur die kühne Fassade, vieles schwingt hier zwischen den Zeilen mit. An diesem historischen Ort wurde am 4. November 1995 der damalige israelische Premierminister Yitzhak Rabin ermordet. Das Licht der anbrechenden Dämmerung umgibt das Gebäude mit einer unheimlichen Aura, alle Kanten wirken überscharf.
Auch der US-amerikanische Fotograf Jeff Wall ist für seine extrem großformatigen Foto-Tableaus bekannt. Vier Jahrzehnte lang hat er in der Kunstwelt dazu beigetragen, dass die Fotografie als wichtige zeitgenössische Kunstform anerkannt wird. Für das Projekt "This Place" reiste er im Oktober 2010 nach Israel. Bei einer Rundreise durch die israelische Wüste Negev entdeckte er den Schlafplatz einer Gruppe von Beduinen, die als Olivenpflücker auf einer Farm arbeiteten. Seit Jahrhunderten leben Beduinen in dieser Gegend, viele wurden von der israelischen Regierung umgesiedelt, nur wenige konnten ihre Traditionen retten.
Ein Jahr später, im Herbst 2011, kehrte Wall dorthin zurück und wählte einen Standpunkt für seine Kamera. Zwei Wochen lang machte er jeden Morgen vor Sonnenaufgang ein Foto von den schlafenden Beduinen, im Hintergrund das nahe Gefängnis neben der israelischen Olivenfarm.
Eine serielle Arbeit, die sich nur in winzigen, fast malerischen Nuancen veränderte. Jeden Tag entwickelte er dieses Foto in einer provisorischen Dunkelkammer in seinem Hotelzimmer, bevor er es einscannte. Erst später traf er die endgültige Auswahl. Seine großformatige Fotoarbeit "Daybreak" hängt in der Berliner Ausstellung zentral am Kopfende eines Raumes - wie ein biblisches Landschaftsgemälde aus dem 17. oder 18. Jahrhundert und doch von höchster digitaler Bildqualität. Im Großformat fängt Wall die zarte Farbigkeit ein, die entsteht, kurz bevor der Tag anbricht. Alles wird durch die Lichtstimmung egalisiert. Sozialkritische Implikationen liegen zwischen den Zeilen.
Kunstprojekt mit politischen Ambitionen
Dem Fotografen Frédéric Brenner, der durch seinen eigenen jüdischen Familienhintergrund eher einen Innenblick auf das Thema Israel hat, ging es bei "This Place" nicht um fotografische Effekte, nicht um Klischeebilder oder den journalistischen Blick. Deshalb wurden auch keine Fotoreporter eingeladen.
Die zwölf Profi-Fotografen haben sich sehr speziell mit jeweils eigenen ästhetischen Konzepten den Geschichten hinter den Fassaden - der Gebäude, der Menschen, der Religiosität, der offiziellen Politik, des israelisch-palästinensischen Konfliktes - gewidmet. Ein Konzept, das gut in die bisherige Ausstellungsphilosophie des Berliner Jüdischen Museums passt.
Diese künstlerischen Positionen, die nach Stationen in Tel Aviv, Prag und New York jetzt als Gastausstellung im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen sind, zeichnen ein vielschichtiges Bild der unterschiedlichen Lebensbereiche im Land. "Israel ist ein Ort der radikalen Andersartigkeit und der radikalen Dissonanz", sagt Brenner im Interview mit der Deutschen Welle. "Dieses Projekt hat auch mit einer Art Polyphonie zu tun, die das Land heute prägt. Wobei wir verstehen sollten, dass wir uns auf diese Polyphonie einlassen müssen - auch in uns selbst."
Heike Mund
© Deutsche Welle 2019
Das internationale Fotoprojekt "This Place" ist noch bis zum 5. Januar 2020 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.
www.jmberlin.de/ausstellung-this-place