Die ausgeblendete Wirklichkeit
"Die Syrer haben eine neue Art von Revolution entwickelt – eine mutige, aber eine, die friedlicher Natur ist", schrieb Rafik Schami noch im Frühjahr 2012 in seinem Vorwort zu Samar Yazbeks Chronik "Schrei nach Freiheit", einer literarischen Dokumentation ihrer Erlebnisse im syrischen Widerstand bis zu ihrer Flucht nach Frankreich im Juli 2011. Als das Buch im März 2012 im deutschsprachigen Raum herauskam, befand sich Syrien allerdings in der Außenwahrnehmung schon mitten im Bürgerkrieg.
Inzwischen scheint der "Schrei nach Freiheit" erstickt worden zu sein. Die Nachrichten, die uns heute erreichen, sind fast nur noch Frontberichte, Opferrekordzahlen nach schweren Kämpfen, alarmierende Berichte über die Militarisierung und Islamisierung der Opposition. Begriffe und Schlagworte wie "Al-Nusra-Front", regionale Interessenskonflikte und Bilder von verbarrikadierten Kämpfern dominieren die Berichterstattung.
Dabei ist durchaus bekannt, dass die Demonstrationen seit Beginn des öffentlichen Widerstandes nie zum Erliegen gekommen sind, sich sogar noch flächendeckender ausgebreitet haben, und nach wie vor viele Menschen mit großem zivilgesellschaftlichen Engagement für eine friedliche Form der Veränderung kämpfen.
Sie gründen Zeitungen, Studentenbewegungen, bauen in lokalen Komitees demokratische Strukturen auf, schreiben Lieder, inszenieren Satire-Puppentheater, malen ausgeklügelte Plakate oder versuchen mit anderen künstlerischen Mitteln auf die Lage aufmerksam zu machen. Doch gewürdigt wird dies immer seltener.
Moralisch unter Generalverdacht
"Die syrische Revolution ist ein Waisenkind geworden", so formuliert es die Autorin Rosa Yassin Hasan. So ist auch der hervorragende, von der Islamwissenschaftlerin Larissa Bender herausgegebene Band "Syrien – Der schwierige Weg in die Freiheit" (Dietz-Verlag 2012), in dem namhafte Aktivisten und Intellektuelle nahezu alle Fragestellungen zur Protestbewegung thematisieren, in der Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen worden.
Vielmehr hat die politische Bürgerkriegsberichterstattung mit der polarisierenden Konzentration auf so ungeliebte Akteure wie Assads Milizen und Militärs auf der einen, Muslimbrüder und Dschihadisten auf der anderen Seite, inzwischen dazu geführt, dass Syrien moralisch unter Generalverdacht steht.
Daher löst das Wort "Bürgerkrieg" tatsächlich auch heute noch bei syrischen Aktivisten, Künstlern und Intellektuellen unterschiedlichster ethnischer, religiöser und nichtreligiöser Zugehörigkeit geradezu allergische Reaktionen aus. Sobald dieser Aspekt in einer Interviewanfrage auftaucht, ist damit auch schon der erste Gesprächspunkt auch bereits festgelegt.
Für eine differenzierte Wahrnehmung
Der politischen Berichterstattung sollen ihre Gründe hier nicht streitig gemacht werden. Selbst sensible Beobachter haben sich bereits seit Ende 2011 mit guten Gründen auf das Bürgerkriegsvokabular festgelegt. Zwischen den Oppositionsgruppen breitet sich tatsächlich mehr und mehr Misstrauen aus, und auch bei physisch gewaltfreien Demonstrationen tauchen Sprechchöre auf wie "Wir sind alle Dschihadisten. Tod den Alawiten".
Diese "Bürgerkriegsallergie" von Syrern aus der gebildeten, die Volksbewegung unterstützenden Opposition hat nichts damit zu tun, dass etwa die Gefahr konfessioneller Kämpfe und islamistischer Instrumentalisierung von ihnen geleugnet oder kleingeredet würde.
Vielmehr mangelt es gegenwärtig an differenzierten Wahrnehmungen, Analysen des Konflikts und an Unterstützung der friedlichen Aktivitäten. Selbst stark emblematische Aktionen, die eigentlich wegen ihrer Inszenierung höchst medienkompatibel sein müssten, finden hier kaum mehr ein Echo.
Ein Beispiel dafür sind die vier syrischen Friedensbräute, die im November 2012 in weißen Hochzeitskleidern den Damaszener Basar durchquert und ein Ende der militärischen Handlungen gefordert hatten. Sie wurden daraufhin von staatlichen Sicherheitskräften verschleppt. Medienberichte blieben aus, ein Aufruf von Amnesty International erreichte 55 Menschen, die ihre Solidarität auf vorgefertigten elektronischen Formularen kundtaten. Erst als die Bräute am 9. Januar im Zuge des Gefangenenaustauschs wieder freigelassen wurden, erschien ihr Foto sehr gelegentlich zur allgemein gehaltenen Agenturnachricht. Über ihr Befinden ist weiter nichts bekannt.
Aus dem Blick
Ein einzigartiges Phänomen bildet auch das Puppentheater "Masasit Mati", über das neben Qantara.de lediglich eine deutsche Tageszeitung hierzulande berichtete. Informell heißt es, dass die junge Theatergruppe inzwischen ins Exil flüchten musste.
Würde Roberto Saviano nach Australien auswandern, käme das dagegen sogar bei der Lokalpresse an. Auch die zahlreichen neu entstandenen Medien seit Beginn der Proteste wie etwa "Syria Tomorrow", "Enab Baladi", "Souriatana", "Tlena Ala Elhouriah" wären eine ausführliche Berichterstattung und gegebenenfalls Unterstützung sicher wert gewesen.
Fragt man zum Beispiel die geflüchtete Journalistin und Frauenrechtlerin Rula Asad in den Niederlanden nach ihren Aktivitäten, so folgt eine breitgefächerte Antwort und Nennung arabischsprachiger Medien, von denen sich Sprachunkundige schwerlich ein Bild machen können.
Auch sind die Unterstützungsmöglichkeiten für Künstler und Intellektuelle, die ins Exil fliehen mussten, recht überschaubar. Die knappe Handvoll Plätze, die vom Heinrich Böll Haus und vom deutschen PEN vergeben werden, sind derzeit neben Rosa Yassin Hasan mit Amer Mattar und Hiba Alansari besetzt. Anfragen kommen dagegen laut Sigrun Reckhaus, der Leiterin des Böll-Hauses, so gut wie täglich.
Mit zweierlei Maß
Noch schwieriger ist es für den weitaus größten Teil der syrischen Künstler und Intellektuellen, die in den Libanon oder nach Ägypten geflohen sind, Unterstützung zu finden. Im Gegensatz dazu wurden Ägyptens Revolutionäre vor zwei Jahren mit großer Aufmerksamkeit und Zuwendung durch westlich finanzierte Thinktanks bedacht.
Beachtet werden muss freilich auch, dass die Förderung kultureller Arbeit zweitrangig erscheint vor dem Hintergrund, dass noch nicht einmal die humanitären Grundbedürfnisse der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens gedeckt sind – dem UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) fehlen dazu derzeit über 80 Prozent der notwendigen Mittel in der Krisenregion.
Ein Bewusstsein für die anhaltenden kulturellen Aktivitäten vieler Syrer zu vermitteln, und damit Menschen zu unterstützen, für die ihre Arbeit vor dem Hintergrund von Folter-, Flucht- und Exilerfahrungen oft den einzigen Anker bildet, ist dabei gewiss nicht Sache der Medien allein.
Im August 2012 zeigten die Ausstellungsmacherinnen Sabe Wunsch und Uta Zwickirsch unter dem Titel "Kunststoff Syrien" Exponate syrischer bildender Kunst in Berlin. Das Medienecho war überwältigend.
Ein Bürgerkrieg kann durch Kunstförderung sicher nicht entschieden werden. Wenn aber zivilgesellschaftliche Akteure in ihrem friedlichen Streben überhaupt gestärkt werden können, dann sind die Anerkennung ihrer kulturellen Bemühungen und das Interesse daran sicher nicht verkehrt. Dass man sich möglicherweise an den auftretenden "Interessenskonflikten" die Finger verbrennen könnte, ist ein verhältnismäßig schwaches Argument dagegen.
Astrid Kaminski
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