"Die Tradition des Wegschauens"
Erinnern Sie sich noch, wann Sie Sabahattin Alis Roman "Die Madonna im Pelzmantel" zuerst gelesen haben?
Doğan Akhanlı: Ich war noch sehr jung. Beim ersten Lesen war es für mich eine nette und tragische Liebesgeschichte. Beim zweiten Mal, vor etwa zwanzig Jahren, fragte ich mich, weshalb Ali ausgerechnet eine Jüdin in Berlin zur zentralen Figur gemacht hat. Ich beschäftigte mich damals stark mit der NS-Zeit und dem Holocaust und fragte mich, ob die Nazis dieser Frau, Maria Puder, erlaubt hätten, bei der Geburt ihres Kindes zu sterben, also überhaupt so lange zu leben – und wie es stattdessen gewesen sein könnte.
"So ist Maria Puder nicht gestorben", heißt es am Anfang Ihres Romans "Madonnas letzter Traum"...
Akhanlı: Ich wollte diese Frage ergründen und fand es interessant, Sabahattin Ali zum Protagonisten meines Buches zu machen. Ihn, der selbst während seiner Flucht aus der Türkei an der bulgarischen Grenze ermordet wurde. Ein offensichtlich staatlich beauftragter Mord. Diese Mordgeschichte wollte ich mit seinem Werk verbinden. Zugleich konnte ich die Geschichte zweier Länder, der Türkei und Deutschlands, miteinander verknüpfen.
Und es gibt einen weiteren Protagonisten, einen türkischstämmigen Schriftsteller, der in Köln lebt. Ist das ein Spiel mit Ihrer eigenen Biografie?
Akhanlı: Ja, und auch mit der Frage, wie ein realer Autor als fiktive Figur aussähe. Sabahattin Ali ist real, Maria Puder ist eine Fiktion, und der türkische Autor aus Köln wirkt, als hätte er ein reales Vorbild. Am Ende gerät alles durcheinander, auch der Ich-Erzähler verwandelt sich in eine Fiktion und es bleibt dem Leser überlassen, zu entscheiden: Was ist real, was Fiktion?
Und bei all dem ist der Hintergrund des Romans historische Realität: Die Geschichte der Genozide des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen der Holocaust, der Armenier-Genozid, später auch der Anschlag von Solingen und heutige Fluchterfahrungen. Themen, die in vielen Ihrer Bücher auftauchen...
Akhanlı: Für mich sind diese Massenmorde, diese überdimensionale Gewalt, etwas, das die Welt weit über die beteiligten Nationen hinaus bewegt hat. Ich sehe den Holocaust nicht als eine deutsch-jüdische Geschichte, sondern als etwas Transnationales. Beim Holocaust gibt es keine Unschuld.
Zum Symbol hierfür wird das Schiff "Struma", das im Bosporus mit fast 800 jüdischen Flüchtlingen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde, in Ihrem Buch ist Maria Puder eine von ihnen – Weshalb wird genau dieses Ereignis zum alternativen Schicksal von Sabahattin Alis Figur?
Akhanlı: Das Schicksal der Struma steht als komprimiertes Bild des Holocaust. Kein Schriftsteller ist in der Lage, den ganzen Schrecken des Holocaust zu erzählen, aber man kann von einzelnen Ereignissen wie diesem erzählen, die zeigen, wie die Menschheit damals versagt hat; wie die angeblich neutralen Länder wie die Türkei die jüdischen Flüchtlinge im Stich gelassen haben. Der Täter war ja nicht nur Nazideutschland. Es gab viele Mittäter.
Wie stand denn die Türkei dazu? Einerseits gab das Land vielen jüdischen Wissenschaftlern und Intellektuellen eine Zuflucht, andererseits ließ man die Menschen auf der "Struma" allein. Wie passt das zusammen?
Akhanlı: Bis kurz vor Kriegsende blieb die Türkei neutral. Obwohl die damalige Regierung despotisch war, muss man das als Leistung anerkennen. Aber den Juden gegenüber blieb die Türkei ambivalent. Sie haben jene ins Land gelassen, von denen sie sich einen Nutzen versprachen. Andererseits gab es in den Dreißiger Jahren Pogrome gegen die eigenen jüdischen Bürger. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs haben vier Fünftel der türkischen Juden das Land verlassen. Und für die europäischen Juden war die Route durch den Bosporus nach Palästina der einzige Fluchtweg. Viele Schiffe ließ die Türkei passieren. Andere wurden an der Durchfahrt gehindert. Drei oder vier Flüchtlingsschiffe wurden in diesem Zeitraum versenkt, eines davon war die Struma.
In der Türkei erschien "Madonnas letzter Traum" bereits 2005 und wurde mit Preisen ausgezeichnet. Wurde es kontrovers aufgenommen oder hat man begrüßt, dass Sie so offen über diese Themen schreiben?
Akhanlı: Ich glaube, man war dort erleichtert, dass die Türkei im Buch nicht der Haupttäter ist. Dass ich eine Verbindung zwischen dem Genozid an den Armeniern und dem Holocaust angedeutet habe, wurde von den meisten Kritikern einfach ignoriert. Sie taten so, als ginge es nur um die deutsche Schuld. Literarisch wurde das Buch gelobt, politisch wurde es kaum diskutiert.
Wäre es heute schwieriger als vor vierzehn Jahren, so ein Buch in der Türkei zu veröffentlichen?
Akhanlı: Es wäre wahrscheinlich nicht schwieriger. Es kommt mehr auf den Autor an als auf das Buch, wie wir bei Ahmet Altan sehen. Dessen letztes Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" mit Essays aus dem Gefängnis, ist in der Türkei nicht erschienen. Das zeigt das Klima in diesem Land. Aber es kommt nur selten vor, dass Bücher verboten werden. Man schickt lieber die Autoren ins Gefängnis.
Auch Sie werden von der türkischen Regierung verfolgt, wurden ausgebürgert und trotzdem 2017 aufgrund eines türkischen Haftbefehls in Spanien erneut festgenommen...
Akhanlı: … während meine Bücher in der Türkei frei erhältlich sind. Es gibt kein Verbot.
Ahmet Altan, einer der wichtigsten Intellektuellen der Türkei, war dreieinhalb Jahre in Haft, wurde überraschend freigelassen und eine Woche später erneut inhaftiert. Wie lässt sich dieses Vorgehen erklären?
Akhanlı: Das ist ein widerlicher und grausamer Angriff auf einen Menschen. Ich denke, die Regierung will der Öffentlichkeit signalisieren: Wir können mit den Menschen umgehen wie wir wollen. Sie zeigen, dass ihnen Europa oder die Rechtsstaatlichkeit egal sind. Europa muss sich klarwerden, mit was für Leuten man es da zu tun hat. Wenn die anderen Länder weiter schweigen, wie auch zum Angriff auf die syrischen Kurden, dann haben wir alle verloren. Je unverschämter Erdoğan wird, desto zurückhaltender werden die Europäer.
Wie sollte Europa, wie sollte Deutschland reagieren?
Akhanlı: Die deutsche Öffentlichkeit weiß, was in der Türkei passiert, sie ist über die Medien gut informiert. Die Probleme kommen von der Politik, die weiterhin traditionell und leise ist. Das ist nicht neu. Es ist die Tradition des Wegschauens. Immer wieder werden neue wirtschaftliche oder andere Gründe gefunden, um sich der Türkei gegenüber zurückzuhalten. Dabei ist Deutschland in einer starken Position und hätte Handlungsmöglichkeiten. Wenn man wollte, könnte man der Türkei Warnsignale senden. Aber das passiert nicht. Ich kann es nicht verstehen.
Das Interview führte Gerrit Wustmann.
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