Ein Leben am Rande der Gesellschaft

Die "Totenstadt" in Kairo ist eine bewohnte Nekropole, bevölkert von den Ärmsten der Armen. Gerhard Haase-Hindenberg hat aus Tagebuchaufzeichnungen ein fesselndes Portrait geschaffen.

Von Volker Kaminski

​​Mona ist stolz darauf, eine Grabhofbewohnerin zu sein. Von klein auf ist sie an den Anblick von Friedhofsmauern und Grabsteinen gewöhnt.

Die Wohnung ihrer Eltern auf dem Grabhof besteht aus drei kleinen Zimmern, das Zusammenleben der zehnköpfigen Familie ist beengt, doch wenn sie mit ihrer Mutter das Essen kocht und sich die Familie um den Tisch versammelt, denkt keiner von ihnen daran, dass wenige Meter unter dem Fußboden die Toten in Grabkammern liegen.

All das, auch der Umstand, dass auf dem Friedhof immer noch regelmäßig bestattet wird, gehört für Mona zum Alltag und ist ein Stück Normalität.

Kindheit und Jugend in der Totenstadt

Durch einen Zufall lernte der Journalist und Buchautor Haase-Hindenberg bei Recherchen in Kairo die 18-jährige Mona kennen, die nach anfänglicher Skepsis schließlich doch bereit war, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Mona, das älteste von acht Geschwistern, führt ein Tagebuch. Ausschnitte aus ihren Aufzeichnungen sind durch Kursivschrift abgesetzt in den Text eingeflochten. Durch diese geschickt gewählte Form wird der nüchterne Tonfall einer Biographie durch die subjektive und authentische Sicht Monas bereichert.

Entstanden ist so ein spannender Lebensbericht, in dem nicht nur die ungeheure Armut der Totenstadtbewohner, deren Anzahl auf insgesamt eine Viertelmillion geschätzt wird, thematisiert wird, sondern auch eine junge aufgeweckte Frau zur Sprache kommt, die bestrebt ist, ihrem tristen Umfeld zu entkommen.

Downtown Kairo – eine neue, fremde Welt

Bis zu ihrem Schulabschluss an der Handelsschule war Monas Horizont beschränkt auf staubige Friedhofsgassen, kleine Märkte neben Mausoleen, Handwerker, die vor ihren Häusern Grabsteine klopfen. Das ändert sich an dem Tag, als sie – ohne Wissen ihrer strengen Eltern – nach Downtown Kairo fährt. Dieser Tag, ihr 18. Geburtstag, wirkt wie eine Initialzündung.

​​Der Anblick der Megacity Kairo überwältigt Mona. Sie lernt auf einem Ausflugsschiff auf dem Nil junge Studenten kennen, die sich von den Menschen in der Gräberstadt stark unterscheiden.

Ihr modernes Bewusstsein, ihre Lockerheit, die sich auch in legerer Kleidung ausdrückt, ihr ökonomisch sorgloses Leben, das ihnen ihre gut situierten Eltern ermöglichen, machen Mona klar, wie groß die Unterschiede in der ägyptischen Gesellschaft sind.

Ein Blick in der Spiegel und Fragen ans Schicksal

In der Gräberstadt zu wohnen heißt, den Normen eines traditionsgebundenen Alltags zu folgen. Die "Torabi" genannten Grabhofmeister weisen Neuankömmlingen, die überwiegend aus ländlichen Gegenden Oberägyptens stammen, Wohnungen zu. Monas Eltern sind einfache, konservativ denkende Menschen, die weder lesen noch schreiben können.

​​Mona selbst ist als rechte Hand ihrer Mutter neben der Schule von morgens bis abends mit Haushaltspflichten beschäftigt. Doch nachts, wenn sie nicht schlafen kann, stellt sie sich vor den Spiegel, betrachtet sich nachdenklich und fragt sich, was das Schicksal mit ihr vorhat.

Haase-Hindenberg versteht es, anhand von Monas Biographie ein Bild vom Leben der Ärmsten Ägyptens zu entwerfen und dabei viele Informationen zu islamischer Religion, Recht, gesellschaftlicher Wirklichkeit einfließen zu lassen.

Er folgt seiner Heldin auf Schritt und Tritt, analysiert ihre Gedanken. Nur manchmal übertreibt er es ein wenig und wird allzu belehrend. Dennoch gelingt ihm ein packendes Porträt einer Welt, die uns mitunter fremder erscheinen mag als ein entlegener Kontinent.

Vorsichtige Emanzipation

Es sind vor allem die krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich, die Monas Erfahrungen in Kairo prägen. Immerhin gelingt es ihr, in Kairo Arbeit zu finden und sich dadurch ein Stück weit von zu Hause zu befreien.

Sie löst zweimal eine Verlobung auf, die bereits für sie arrangiert worden war, lernt vieles in ihrer Umwelt kritisch zu sehen und ist auch irgendwann in der Lage, über das schrecklichste Erlebnis ihrer Kindheit zu schreiben: den unmenschlichen Brauch der Klitorisbeschneidung, die in manchen Teilen Ägyptens noch praktiziert wird und den sie selbst hat über sich ergehen lassen müssen.

Neben einer bewegende Lebensgeschichte und einem ungewöhnlicher Blick auf Kairo bietet der Band eine Reihe leuchtend schöner Farbfotos, die einen Eindruck vom Leben in der Gräberstadt vermitteln.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2009

Gerhard Haase-Hindenberg, "Das Mädchen aus der Totenstadt. Monas Leben auf den Gräbern Kairos", Heyne, 2008

Qantara.de

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