Alte Wunden und neue Probleme in der „Syrien-Straße“
Wer im nordlibanesischen Tripoli auf die große Syria Street, die Syrien-Straße, einbiegt, fährt vorbei an Gebäuden mit Einschusslöchern, an Müll, der seit Wochen nicht abgeholt wurde, aber auch an sauber zum Verkauf aufgestellten Sitzmöbeln, die beinahe dazu einladen, mitten auf der Straße Platz zu nehmen - als würde man sich in ein großes Freiluft-Wohnzimmer setzen. Die Menschen, die entlang der Straße leben, kennen sich alle; viele sind hier aufgewachsen, haben ihr ganzes Leben hier verbracht.
In den frühen 1900er Jahren wurden über diese einst lebhafte Straße Waren aus Beirut kommend ins heutige Syrien transportiert. Das hat ihren Bewohnern damals zu einigem Wohlstand verholfen. Davon ist heute jedoch nicht mehr viel übrig geblieben. "Die Syrien-Straße ist bekannt für ihre vielschichtige Bevölkerung, aber auch für Zeiten voller Spannungen und Konflikte", sagt Jihan Takla von der Nichtregierungsorganisation Utopia, die direkt an der Straße ihr Büro hat und sich für soziale Gerechtigkeit und Versöhnung einsetzt.
Die Narben der Geschichte
Die Narben dieser Konflikte trägt die Straße heute sichtbar nach außen. Die Wände erzählen Geschichten von Kampf und Gewalt. Denn die Syrien-Straße durchschneidet die teils verarmten Viertel Bab al-Tabbaneh und Jabal Mohsen, die viele Jahre in rivalisierenden Kämpfen entlang konfessioneller Linien versunken waren.
Seit 2008 hatten sich verfeindete Milizen in diesen Vierteln immer wieder Schießereien geliefert. Diese Gewaltausbrüche nahmen dann zwischen 2011 und 2015 an Intensität zu, als der Ausbruch des Syrienkriegs alte Ressentiments und politische Gräben zwischen den beiden Vierteln verschärfte, die bis in den libanesischen Bürgerkrieg zurückreichen.
Mit Ausbruch der Kämpfe in Syrien stellte sich das alawitisch geprägte Viertel Jabal Mohsen auf die Seite des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Das sunnitische Viertel Bab al-Tabbaneh - mit historischen Verbindungen ins syrische Homs, nach Hama und Aleppo - unterstützte die damaligen Rebellen. Mehrere Jahre lang verwandelte sich die Straße in ein Schlachtfeld. Hala, aufgewachsen in Bab al-Tabbeneh, erinnert sich noch gut an diese Zeit: "Mein Bruder war damals noch ein Teenager, er wurde angeschossen und sitzt seither im Rollstuhl."
Die unruhige Straße wurde zu einem Spiegel des Kriegs in Syrien und zu einer Frontlinie, die ihren Namen mehr denn je rechtfertigte. Junge Libanesen, die in Tripoli lebten, bekämpften sich gegenseitig und waren bereit, für eine Sache zu sterben, die nicht ihre eigene war. Bis die Gewalt plötzlich und unverhofft mit einem Einsatz der libanesischen Armee im Jahr 2015 ein Ende nahm.
Das Gebiet steht auch heute noch unter der Aufsicht des Militärs. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen versuchen seither, die Spannungen abzubauen und Frieden zu schaffen, sagt Jihan Takla von Utopia.
Verarmtes Tripoli, verarmte Syrien-Straße
In weiten Teilen von Tripoli ist es tatsächlich gelungen, Spannungen abzubauen, obwohl die gesamte Stadt in keinem guten Zustand ist: Tripoli hat etwa 500.000 Einwohner. Es ist die zweitgrößte Stadt des Libanon, liegt 85 Kilometer nördlich der Hauptstadt Beirut und gehört nach einem Bericht der Weltbank zu den ärmsten Metropolen entlang der gesamten Mittelmeerküste.
Die Wirtschaftskrise, die der Libanon seit 2019 erlebt, hat die Stadt in eine noch tiefere Krise getrieben – und damit auch die Gegend um die Syrien-Straße, die schon zuvor von hoher Jugendarbeitslosigkeit und Armut geprägt war. Viele junge Männer aus Tripoli haben versucht, das Land über das Mittelmeer zu verlassen, viele sind dabei ertrunken. Auch junge Männer aus der Syria Street.
"Jetzt gibt es hier zwar keine offenen Kämpfe mehr", sagt die 40-jährige Hala, "aber dafür haben wir andere Sorgen". Drogen sind ein Problem, das sie benennt, Kriminalität ist ein anderes. "Das Gebäude, in dem ich lebe, soll einsturzgefährdet sein, weil es nicht instandgehalten wird", sagt Hala. "Aber wo sollen wir hin, wir haben keine andere Wahl, als dort zu bleiben." Außerdem kümmert sich Hala seit dem Tod ihrer Mutter auch um den Bruder im Rollstuhl. Wegziehen käme also schon deshalb nicht in Frage.
Hoffnungslos am Abgrund
Der Libanon galt lange als die Schweiz des Nahen Ostens. Milliarden lagerten dort auf Bankkonten. Vor allem die Golfstaaten legten in Beirut ihr Geld an. Seit 2019 ist das vorbei, der Zedernstaat taumelt in den Abgrund. Birgit Svensson berichtet aus Beirut und Tripoli.
Angespannte Ruhe und lokale Anführer
"Die Syrien-Straße ist eine vernachlässigte Gegend", sagt Nadine Alidib. Sie hat zehn Jahre für eine Organisation in der Syrien-Straße gearbeitet, bis sie schließlich den Kulturraum Warche13 und das Kulturzentrum Marsah in Tripoli gegründet hat. "Es gibt keine staatliche Kontrolle und keine Ordnung. Es gibt kein menschenwürdiges Leben, kein sauberes Wasser, keine sauberen Straßen, keinen Schutz."
Ob Stromausfälle, Müllentsorgung oder Mangel an sauberem Wasser: "Die Menschen müssen ihre Probleme hier irgendwie allein lösen", sagt Jihan Takla von Utopia. Gerade erst haben ehemals verfeindete Kämpfer gemeinsam unter der Leitung der libanesischen Organisation March solarbetriebene Straßenlaternen in den beiden ehemals verfeindeten Stadtteilen rund um die Syrien-Straße angebracht, damit die Menschen sich nachts sicherer fühlen.
Ehemalige Feinde kommen sich näher. Die Wirtschaftskrise habe alle gleichermaßen in die Knie gezwungen, hört man die jungen Menschen auf der Straße sagen. Für die einen ist sie die größte Herausforderung. Für Menschen wie Hala sind es auch die Drogen und die Waffen, die in Umlauf sind, sowie die lokalen Führer, die hier das Sagen haben.
"Die Syrien-Straße spiegelt aber auch die Widerstandsfähigkeit und das Durchhaltevermögen ihrer Bewohner inmitten aller Widrigkeiten wider", so Jihan Takla von Utopia. Die einst getrennten Gruppen lernen, wieder zusammenzuleben und treten füreinander ein. Aber Jihan Takla weiß auch, dass die Lage angespannt bleiben wird. Auf der Syrien-Straße kann die Vergangenheit jederzeit wieder die Gegenwart einholen. Es braucht nicht viel, um alte Wunden wieder aufzureißen.
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