Die nackte Wahrheit

Was symbolisiert der weibliche Körper im Judentum, Christentum und Islam? Der verschleierte wie der freizügig gekleidete Frauenkörper stehen für das Göttliche, sagen Christina von Braun und Bettina Mathes.

Von Nimet Seker

Kreuz und Kopftuch sind Symbole zweier Religionen. Zwar stammen beide aus dem Orient, stehen heute aber für gegensätzliche Werte. Wenn diese Grenzziehung so klar und eindeutig wäre, würde sich in Okzident und Orient vielleicht kaum jemand so heftig über das Kopftuch streiten.

Über die symbolische Funktion des weiblichen Körpers in den monotheistischen Religionen haben nun Christina von Braun und Bettina Mathes ein Buch geschrieben. Dieses Buch ist eine Art Psychoanalyse der drei abrahamitiscgen Religionen auf der Ebene der Geschlechterordnung. Dabei geht es nicht um die Psyche von Personen, sondern um die Psyche von Kulturen.

Für "Verschleierte Wirklichkeit" wählten die beiden Autorinnen einen wissenschaftlichen Ansatz, und trotz der Komplexität des Themas verstehen sie es, ihre Thesen weitgehend verständlich darzustellen.

Der Frauenkörper als Schnittstelle der Religionen

Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die symbolische Funktion des weiblichen Körpers im Christentum, Judentum und Islam. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den kulturellen Gemeinsamkeiten, aber auch Abgrenzungen voneinander, die sich am symbolischen Frauenkörper festmachen.

Als Grundlage dienen Texte aus der Islamwissenschaft und der Geschlechterforschung sowie eigene Arbeiten über das Judentum und Christentum. Sie werden ergänzt von Texten und Aussagen aus dem westlichen Diskurs um den Islam, den Schleier und den Harem.

Dabei stellen die Autorinnen – beide anerkannte Wissenschaftlerinnen aus der Geschlechterforschung - zunächst einmal heraus, dass sich in allen drei Religionen die göttliche Botschaft in der Geschlechterordnung widerspiegelt.

Die Symbolkraft des Schleiers

Der Leser erfährt, dass der Schleier nicht etwas spezifisch Islamisches ist, sondern ein Element des Mittelmeerraumes. Hier war der Schleier schon in der Antike verbreitet; auch christliche Frauen verschleierten sich.

Was symbolisiert der Schleier eigentlich? Das hängt, so eine Grundthese des Buchs, mit der Gottesvorstellung in der jeweiligen Religion zusammen. Der Gott im Christentum ist ein Gott, der sich offenbart und zeigt. Dagegen sind der islamische und jüdische Gott abstrakt und nicht greifbar. Daher kommt auch das Bilderverbot im Islam und Judentum, und umgekehrt die bildliche, sichtbare Darstellung des christlichen Gottes.

Der symbolische Frauenkörper, mal verschleiert, mal enthüllt, werde auf einer kulturell unterschwelligen Ebene mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht. Die Autorinnen zeigen anhand von Beispielen auf, dass dies bereits in der Antike so war und im säkularisierten Westen immer noch so ist.

So sei der christliche Nonnenschleier ein Symbol für die Weltabgewandtheit und die sexuelle Enthaltsamkeit der Frau. Auch im Islam sei die Vorstellung von Weiblichkeit, Schleier und Sakralität auf das Engste miteinander verbunden.

Auf der Suche nach der göttlichen Wahrheit

Das Ablegen – und auch die Ablehnung des Schleiers – und die Enthüllung des Frauenkörpers im Westen bringen von Braun und Mathes mit der christlichen Suche nach der "nackten (göttlichen) Wahrheit" in Zusammenhang. Damit argumentieren die Autorinnen auf einer tiefen, kulturpsychischen Ebene.

Auf der Suche Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der drei Religionen behandelt das Buch ganze Themenkomplexe, die mit dem Hauptthema nichts zu tun haben –allerdigs nur auf dem ersten Blick. Dem Selbstverständnis und dem Orientbild des Westens räumen sie viel Raum ein. Ganz neue Fragen und Thesen werden dabei aufgeworfen:

​​Warum hat der Orient in der Moderne keine technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften hervorgebracht? Liegt das an seiner "kulturellen Rückständigkeit"? Der Westen habe, so von Braun und Mathes, aufgrund seiner linearen Zeitwahrnehmung die Idee der "Mathemasierbarkeit" und "Berechenbarkeit der Welt" verinnerlicht.

Dieses Denken impliziere die Unterwerfung und Beherrschung der "wilden Natur" und habe nicht nur zur Entwicklung moderner Technologien und Wissenschaften, sondern auch zur Kolonialisierung anderer Kulturen und Völker geführt.

Die Idee der Beherrschung der "Barbaren" sei für die Entstehung des Fortschrittsglaubens ein zentrales Antriebsmittel gewesen. Der sexuell fantasierte "schwache, weibische" Orient sei Objekt des Eindringens, Penetrierens und der Unterwerfung. Der Westen nehme dabei die Rolle des "dominanten Penetrators" ein.

Dieses Jahrhunderte alte Orientbild existiere heute noch, etwa in der Mediensprache: Amerikaner "unterwerfen" dank ihrer hoch technisierten Militärausrüstung den Irak. Durch diesen Diskurs inszeniere sich der Westen als männlich, technisch fortschrittlich und überlegen.

Der Frauenkörper als Sexbombe

Ein weiteres Beispiel: Die erste Atombombe wurde auf dem Bikini-Atoll getestet. Die Bombe inspirierte einen französischen Designer zum "Bikini", der dem nackten Frauenkörper die "Sprengkraft" einer Atombombe gab. Damit wurde ein Zeichen für die damals als "kulturelle Errungenschaft" gefeierte Atombombe gesetzt. Auch hier stehe die männliche Technologie für die Beherrschung der weiblichen Natur.

Der Bikini sei aber nicht nur Träger einer vergessenen politischen Botschaft, sondern auch ein hochgradig aufgeladenes Symbol für die "Fetischisierung des nackten weiblichen Körpers", die "Warenförmigkeit weiblicher Erotik und die Befriedigung des voyeuristischen Blicks". Mehr noch: Der nackte weibliche Körper fungiere als Inkarnation einer tödlichen Massenvernichtungswaffe, als "Sexbombe".

Der weibliche Körper werde also im Westen wie im Orient mit symbolischen Zuschreibungen beladen. Mal ist es der Bikini, mal das Kopftuch.

Die um sich greifende Erregung über das Kopftuch im Westen bewerten die Autorinnen als Taktik, um von den Problemen im "aufgeklärten und fortschrittlichen" Europa abzulenken. Als Beispiel nennen sie fehlende Geschlechtergleichheit in den westlichen Gesellschaften.

Die Kopftuchdebatte: Ein Ablenkungsmanöver?

Der Fingerzeig auf den vermeintlich rückschrittlichen Islam und die "unterdrückte" und "weg gesperrte" Frau lenke auch vom Ausmaß des Menschenhandels und der Zwangsprostitution in europäischen Ländern ab. Laut UNO-Berichten lebten allein 200.000 Zwangsprostituierte in der Bundesrepublik.

Zur Diskussion um Parallelgesellschaften in Deutschland resümieren von Braun und Mathes deshalb: "Wenn es in Deutschland eine Parallelgesellschaft gibt, so besteht sie in der Prostitutionsindustrie".

Wer bei aller Unsachlichkeit und Emotionalität, die die Diskussion um den Islam und die Frau samt ihrer Verschleierung bestimmt, keine Lust mehr verspürt, schon wieder ein Buch über "Die Frau, der Islam und der Westen" zu lesen, wird bei diesem Buch viel verpassen. Es bietet nicht nur einen Abriss über die gemeinsame Kulturgeschichte der drei monotheistischen Religionen, sondern auch völlig neue Analysen und Thesen.

Vor allem dem Selbstverständnis des Westens wird viel Platz eingeräumt. Gängige Argumentationsmuster aus der Diskussion um "Die Frau im Islam", wie wir sie von selbsternannten Expertinnen wie Necla Kelek und Ayaan Ali Hirsi kennen, werden dem Leser erspart. Wer also endlich einmal eine aufschlussreichere Lektüre zum Thema sucht, sollte zu diesem Buch greifen.

Nimet Seker

© Qantara.de 2007

Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Aufbau-Verlag 2007

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