"Frauen werden systematisch ausgegrenzt"

Jeden Tag kämpft die jemenitische Politikerin und Aktivistin Noura Al Jarawi gegen Anfeindungen im Netz.
Jeden Tag kämpft die jemenitische Politikerin und Aktivistin Noura Al Jarawi gegen Anfeindungen im Netz.

Mehr als 200.000 Menschen folgen ihr auf Facebook, auf Twitter sind es ca. 54.000. Nora Al-Jarawi ist eine der prominentesten jemenitischen Politikerinnen. Für Qantara.de berichtet sie, wie kein Tag vergeht, an dem sie sich nicht gegen Angriffe im Netz wehren muss, nur weil sie offen ihre Stimme erhebt.

Von Nora Aljarwai

Der Krieg im Jemen und die humanitäre Katastrophe im Land sind weltweit regelmäßig Thema in den Nachrichten. Doch die verbrecherischen Angriffe gegen Frauen blieben lange Zeit im Dunkeln. Diese Verbrechen zu dokumentieren und aufzuzeigen, ist Sinn und Zweck unserer unermüdlichen Arbeit. 2021 hat der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution zum Jemen darauf reagiert und bestätigt, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen strafbar ist.

Die Resolution benennt sogar einen der politischen Führer des Landes als Täter. Wir dokumentieren die Gewalt gegen jemenitische Frauen auf digitalen Plattformen – egal ob diese Gewalt sich gegen Politikerinnen oder andere führende Köpfe unter den Frauen richtet. So wollen wir sicherstellen, dass die internationale Gemeinschaft dies zur Kenntnis nimmt und darauf reagiert.

Das Internet gilt als wichtiges Sprachrohr für führende jemenitische Frauen – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Im Jemen hat zwar nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung Zugang zum Internet, aber erfahrungsgemäß lösen politische Ereignisse einen sprunghaften Anstieg der Internetnutzung aus, insbesondere auf Facebook. Während des Arabischen Frühlings stieg beispielsweise die Zahl der Accounts im Jemen zwischen 2011 und 2012 um 30 Prozent.

Versteckt hinter falschen Konten

Im Jemen werden keine verlässlichen Statistiken über die Anzahl weiblicher Internetnutzer geführt. Allerdings geben 13 Prozent der Facebook-Nutzer bei ihrer Registrierung an, Frauen zu sein. Das ist ein erster Richtwert. Tatsächlich dürfte die Zahl deutlich höher liegen, denn viele Benutzerinnen verstecken sich im Jemen hinter männlichen Konten und falschen Namen. Sei es aus Angst vor Belästigung oder wegen ihres konservativen Umfelds.



Führende jemenitische Frauen – vor allem Politikerinnen – veröffentlichen allerdings meist ihre Namen und Bilder offen auf Social-Media-Plattformen. Sie nutzen diese Plattformen, um ihrem Ausschluss aus den Entscheidungsfindungsprozessen und Netzwerken etwas entgegenzusetzen, die in der Regel Männern vorbehalten sind. In diesen Männerzirken spielt das Kauen der berauschenden Khatblätter keine unwesentliche Rolle. Wir sehen heute einen gravierenden Rückschritt gegenüber den Errungenschaften, die jemenitische Frauen in der Vergangenheit bereits erzielen konnten; vor allem in den Jahren 2013 und 2014 während der Konferenz des Nationalen Dialogs.

Die jemenitische Aktivistin Noura al-Jarawi; Foto: screenshot womensolidaritynetwork.org
Jemenitische Aktivistinnen geben nicht auf: Im Jemen werden keine verlässlichen Statistiken über die Anzahl der weiblichen Internetnutzer geführt. Allerdings geben 13 Prozent der Facebook-Nutzer bei ihrer Registrierung an, Frauen zu sein. Das ist ein erster Richtwert. Tatsächlich dürfte die Zahl deutlich höher liegen, denn viele Benutzerinnen verstecken sich im Jemen hinter männlichen Konten und falschen Namen. Sei es aus Angst vor Belästigung oder wegen ihres konservativen Umfelds. Führende jemenitische Frauen – und hier vor allem Politikerinnen – veröffentlichen allerdings meist ihre Namen und Bilder offen auf Social-Media-Plattformen. Sie nutzen diese Plattformen, um ihrem Ausschluss aus den Entscheidungsprozessen und einflussreichen Machtzirkeln etwas entgegenzusetzen.



Die jemenitische Mehrheitsgesellschaft will, dass Frauen schwach und ohne Stimme bleiben. Sie steht auf der Seite derer, die Frauen missbrauchen. Frauen sind nicht nur im Staatsapparat von Entscheidungspositionen ausgeschlossen. Sie werden systematisch von der Teilhabe am politischen Prozess ausgegrenzt, auch von Friedensgesprächen. Dabei sind es in allen Gemeinschaften üblicherweise Frauen, die bei Friedensbemühungen und humanitärer Hilfe eine wichtige Rolle spielen.

Aber wir geben nicht auf und erkämpfen uns über verschiedene Initiativen einen Platz auf der politischen Bühne. Hier ist insbesondere die Peace Track Initiative zu nennen. Unter Mitwirkung von 30 Frauen hat die Initiative einen Fahrplan für den Frieden im Jemen ausgearbeitet. Er soll die methodischen Grundlagen für ein Gleichgewicht und eine echte Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen des politischen Prozesses schaffen.

Diese Initiative – sofern sie umgesetzt wird – wird die Lebensumstände der politisch aktiven Frauen im Jemen grundlegend verändern, was den Weg zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden im Jemen beschleunigen dürfte. Die Umsetzung einer solchen Initiative verlangt von den derzeitigen politischen Führungspersonen allerdings ein Umdenken und die Anerkennung der Rolle, die Frauen spielen. Wir fordern ein entschlossenes Vorgehen gegen Hassrede und geschlechtsspezifische Gewalt im Internet. Die Verantwortlichen für Gewalt im Netz müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Tagtäglich werden jemenitische Politikerinnen systematisch mithilfe von Bots, E-Flies und gefälschten Konten angegriffen. Diese Kampagnen zielen darauf ab, Frauen persönlich zu diskreditieren. Ihr Privatleben wird ausgeforscht und auf Websites werden persönliche Bilder veröffentlicht, die vorher mit Bildbearbeitungstechniken oder Deep-Fake-Verfahren manipuliert wurden. Die Betroffenen werden überall angegriffen, ganz gleich, wo sie sich aufhalten – im Inland oder im Ausland.

Der Krieg im Netz kennt keine Landesgrenzen. Er reicht bis in den letzten Winkel des Internets. Hier ist der jemenitische Staat gefordert: Er muss Maßnahmen zum Schutz gegen digitale Gewalt, Hassrede und Hetze gegen Frauen ergreifen. Die Justiz muss gegen diese Form der digitalen Kriminalität vorgehen, die zur Waffe geworden ist.

 

The appointment of Judge Sabah Al Alwani is good step towards improving gender quality however our Director @RashaJarhum highlighted how #Yemen-i women are still facing discrimination everyday. Reported by Mr. Abdullah Ali https://t.co/SAQmzI2mfK

— Peace Track Initiative مبادرة مسار السلام (@Peace_Track) September 16, 2022

 

Von digitaler Belästigung bis zum digitalen Krieg

Für jemenitische Politikerinnen werden die sozialen Medien schnell zu einem toxischen, abstoßenden Umfeld. Auf unsere Kampagne zur Ablehnung der Ende 2020 gebildeten neuen Regierung, in der erstmals seit zwanzig Jahren keine Frauen vertreten waren, erlebten wir die bisher schlimmsten Online-Angriffe gegen jemenitische Politikerinnen. Gegen die Aktivistinnen der Kampagne #NoWomenNoGovernment wurden bösartige Attacken geführt.

Prominente Männer wurden aufgefordert, sich den Angriffen anzuschließen. Die Aktivistinnen wurden als unmoralisch oder manipulativ dargestellt. Es wurde gezielt nach Fehlern in der Vergangenheit gesucht. Frühere Aussagen von Aktivistinnen wurden verdreht, die eigenen Worte gegen sie verwendet. Wenn sich Frauen zu einem Sachverhalt äußern, werden sie offenbar Zeit ihres Lebens dafür zur Rechenschaft gezogen. Für Männer gilt das nicht. Ihnen werden frühere Äußerungen nachgesehen. Bei ihnen zählt die Vergangenheit nicht.

Diejenigen, die die Öffentlichkeit gegen jemenitische Politikerinnen aufhetzen, reden nicht offen über ihre politischen Vorstellungen oder Themen. Vielmehr missbrauchen sie Diskussionen für haltlose Anschuldigungen, die einzig darauf abzielen, Frauen in ein schlechtes Licht zu rücken. Das passiert ständig.

Still sein und die Angriffe einfach hinnehmen

Ich selbst werde häufig über gefälschte Konten angegriffen. Die Inhaber dieser Fake Accounts werfen mir unmoralisches Verhalten und die Förderung der Prostitution vor, nur wegen meiner politischen Überzeugung. Hinter einem dieser Fake Accounts verbargen sich in Wahrheit mehrere männliche Politiker und sogar einigen Frauen. Wenn ich diese Tatsache offen benenne, wird mir gesagt, ich solle besser still sein und die Angriffe einfach hinnehmen.



Die Administrateure der Social-Media-Plattformen sind auch keine Hilfe. Meldet man einen Beitrag, der gegen die Regeln verstößt, geschieht nichts. Verstehen die Betreiber der Plattformen den jemenitischen Dialekt nicht? Oder ist die eingesetzte künstliche Intelligenz nicht ausgefeilt genug, um derartige Verstöße auf Arabisch erfassen zu können?



Auch meine Familie setzt mich unter Druck. Sie drängt mich, die Medien zu meiden und nicht mehr zu Themen Stellung zu beziehen, die mir wichtig sind. Der Druck geht allerdings noch über meine Familie und mein soziales Umfeld hinaus. So "raten“ mir männliche Kollegen aus der Politik häufig, lieber zu schweigen und mich aus heftigen Diskussionen herauszuhalten. Werde ich angegriffen, stehen sie nicht hinter mir. Vielmehr äußern sie sich im Internet kontrovers und ermutigen sogar andere Politiker dazu, streitbare Posts zu veröffentlichen – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

 

I hosted a virtual event with a group of amazing women activists and civil society leaders. In any conversation about the future of Yemen, women must have a seat at the table. pic.twitter.com/AV8cngzZm2

— US Embassy to Yemen السفارة الأمريكية لدى اليمن (@USEmbassyYemen) August 24, 2022

 

Die böswilligen Kampagnen gegen jemenitische Politikerinnen haben viele führende Frauen dazu getrieben, ihre Aktivitäten in den sozialen Medien einzustellen. Aus Angst vor Gegenreaktionen halten sich die meisten Aktivistinnen bei sensiblen oder kontroversen Themen in den sozialen Medien mittlerweile zurück. Es gibt hunderte jemenitischer Frauen, denen keine unmittelbare körperliche Gewalt droht, weil sie in den USA oder in Europa leben. Doch die Hetze und Gewalt in den sozialen Netzen haben sie dazu gebracht, sich nicht mehr an Menschenrechtskampagnen zu beteiligen. Noch nicht einmal zur Verteidigung derjeniger, denen im Jemen physische Verfolgung und Misshandlung droht.

"Ich fühle mich persönlich bedroht“

Die Hetze in der digitalen Welt wird im realen Leben oft zur echten Bedrohung – sogar für das Leben der betroffenen Frauen. Systematische Online-Angriffe bringen Aktivistinnen im Ausland dazu, Frauen im Jemen nicht zu unterstützen. Sie fürchten, selbst Ziel der Angriffe zu werden und als Komplizin der betreffenden Politikerin beschuldigt zu werden. Vor einiger Zeit galten führende Frauen im Ausland als Verteidigerinnen ihrer Mitstreiterinnen, die der politischen Diktatur und dem Patriarchat im Jemen ausgeliefert sind. Heute sind diese Frauen von der digitalen Isolation bedroht.



Das toxische Umfeld in den sozialen Medien beeinflusst auch aufstrebende junge Frauen, die ihre Laufbahn noch vor sich haben und nach Vorbildern suchen. Dass das Bild führender Frauen im Netz verzerrt wird, ist das Ergebnis einer Politik, die darauf abzielt, die Ambitionen junger Frauen auszubremsen und ihnen ihre Träume zu nehmen.



Politisch aktive Frauen mit einer starken Präsenz in den sozialen Medien werden von der männlichen Elite als Bedrohung empfunden und daher gezielt von Beförderungen und Stellenbesetzungen ausgeschlossen. Die berufliche Laufbahn einer aktiven Frau kann durch "politische Hinrichtung“ beendet werden. Zumindest wird diese Frau an den Rand gedrängt und ihrer beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Sie wird keinen angemessenen Job finden. Weder in einer politischen Partei noch in staatlichen Institutionen. In der Gesellschaft gelten diese Frauen als Problem. Denn sie sind laut und scheuen sich nicht, in einer Debatte mitzureden. Eine Frau, die nicht willens ist zu schweigen, gilt aus der Sicht des Patriarchats als kompliziert. Das höre ich ständig. Besser, sie bleibt in der Partei künftig außen vor – sagen die Männer in den Schlüsselpositionen.

Wer sich zu Wort meldet, gilt als schwierig

Aus Angst vor Diffamierung und digitaler Gewalt ziehen viele führende jemenitische Frauen den sanften Diskurs vor und beschwichtigen lieber. Viele von ihnen scheuen eine klare Haltung zu den vielen Problemen, vor denen wir im Jemen stehen. So verschwinden sie von der Bildfläche, während die männlichen Stimmen lauter werden. Im Unterschied dazu haben Männer immer das Recht, ihre Meinung zu äußern. Selbst wenn sie zu Gewalt aufrufen und damit die Sicherheit der Gesellschaft gefährden.

In unserer Gesellschaft ist die Frau selbst schuld, wenn sie offen Stellung bezieht. Gleichzeitig darf sie Männern nicht ins Wort fallen, die sie angreifen und verleumden. So sieht sich die jemenitische Politikwissenschaftlerin Olfat Aldobui beispielsweise einer üblen Kampagne ausgesetzt, weil sie für Frauen das Recht fordert, ohnen männlichen Vprmund einen Pass zu beantragen. In der gegen sie geführten Hetzkampagne wurde sie sogar der Blasphemie bezichtigt. Selbst nachdem sie die Verantwortlichen vor Gericht brachte, lief die Hasskampagne mit Unterstützung einiger Staatsbediensteter weiter. Als ich mich auf meiner Facebook-Seite mit Olfat Aldobui solidarisierte, erhielt ich auf meinen Beitrag 100 Kommentare. 94 davon mit beleidigenden Inhalten, in denen ich beschuldigt wurde, an den ihr unterstellten Verbrechen beteiligt zu sein.

Die digitalen Plattformen im Jemen müssen sich dringend verändern. Aus der abstoßenden, toxischen Umgebung muss ein sicherer Ort werden, der zur Unterstützung ermutigt, der mehr Aktivistinnen eine Stimme verleiht und in dem Frauen vielfältig repräsentiert sind. Wenn wir die digitale Kriminalität ernsthaft bekämpfen wollen, werden wir in einer partnerschaftlichen Atmosphäre zusammenarbeiten müssen.

Nora Al-Jarawi

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Nora Al-Jarawi (@Noorajrwi) ist eine jemenitische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Vorsitzende des Salvation Movement, der Alliance of Women for Peace in Yemen, der Association for the Protection of Women Survivors of Houthi Prisons und Direktorin der Kony Watan Organisation for Development. Sie ist zudem Mitglied des Ständigen Ausschusses des Allgemeinen Volkskongresses im Jemen und stellvertretende Generalsekretärin des Obersten Rates der Organisationen der Zivilgesellschaft. Al-Jarawi setzt sich mit Nachdruck für weibliche Gefangene ein. Durch lokale und internationale Vermittlungen konnte sie die Freilassung vieler erreichen. Als Mitglied des Women's Solidarity Network und Stipendiatin der Peace Track Initiative "Feminist Leaders Fellowship“ setzt sie sich für inhaftierte Frauen, Binnenflüchtlinge und die vom anhaltenden Konflikt im Jemen betroffenen Menschen ein.