Ein Konsens, der keiner ist
Am Sonntag, den 27. Mai 2018 organisierten Tunesier und Tunesierinnen eine Demonstration in der Hauptstadt Tunis. Damit folgten sie den Aufrufen in sozialen Netzwerken, ihr Recht als Nichtfastende zu verteidigen, im Fastenmonat Ramadan auch tagsüber in der Öffentlichkeit essen und trinken zu dürfen. Ihr Protest richtete sich dabei auch gegen die Reaktivierung einer veralteten Verordnung, die das Innenministerium in der jüngeren Vergangenheit bislang nicht angewendet hatte. Demnach sollen Cafés und Restaurants während des Ramadans tagsüber geschlossen bleiben, eine demonstrative Nichteinhaltung des Fastengebots wird mit einer Strafe geahndet.
Die Kontroverse um das öffentliche Nichtfasten während des Ramadans ist seit dem Sturz der Diktatur Ben Alis nach dem Aufstand vom 17. Dezember nie gänzlich verebbt. Sie macht deutlich, dass die Tunesier und Tunesierinnen noch einen langen Weg vor sich haben, bis sie ein ausgewogenes Verhältnis finden zwischen den persönlichen Freiheitsrechten der neuen Verfassung und den Bedürfnissen der Öffentlichkeit – in einem Land, in dem die konservativen Kräfte nach wie vor großen politischen und sozialen Einfluss haben.
Die tunesische Gesellschaft ist im Hinblick auf diese Frage gespalten: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die im öffentlichen Nichtfasten eine "Provokation" sehen, und gegen die ihrer Meinung nach unbedingt rechtlich vorgegangen werden müsste. Für sie ist der Ramadan eine Zeit der religiösen Hingabe, die zur Einhaltung des Fastengebots verpflichtet. Auf der anderen Seite fordern die Befürworter des öffentlichen Nichtfastens vom Staat, die persönlichen Freiheitsrechte der Bürger zu schützen und ihnen ein Leben gemäß ihren Überzeugungen zu ermöglichen. Das Kuriose dabei ist: Beide Seiten stützen sich mit ihren Forderungen auf die gleichen Artikel der tunesischen Verfassung.
Schwammige Gesetze
Dass sich beide Seiten auf die gleiche Textgrundlage beziehen können, liegt ohne Zweifel an den schwammigen Formulierungen, die die tunesischen Gesetzestexte durchziehen. Zusätzlich angefacht wird die heftig geführte Debatte noch dadurch, dass die Konstituierung des Verfassungsgerichts bis dato noch nicht abgeschlossen wurde. Auf dieses setzen jedoch insbesondere Menschenrechtler: Sie hoffen, dass das Gericht aus ihrer Sicht "mittelalterliche" Relikte, die dem Geist der neuen Verfassung zuwiderlaufen, aus der Rechtsprechung streicht.
So heißt es in Artikel 6 der Verfassung von 2014: "Der Staat ist der Hüter der Religion. Er garantiert die Glaubens‐ und Gewissensfreiheit und die freie Religionsausübung; er ist Garant der Neutralität der Moscheen und der Kultorte gegenüber jeder parteipolitischen Instrumentalisierung. Der Staat verpflichtet sich, die Werte der Mäßigung und der Toleranz zu verbreiten und alles, was heilig ist, vor Angriffen zu schützen. Er verpflichtet sich ebenfalls, Aufrufe zu Takfir [d.h. Muslime zu Ketzern zu erklären] sowie die Aufstachelung zu Hass und Gewalt zu verbieten und zu bekämpfen."
Demgegenüber lautet Artikel 49 der Verfassung: "Das Gesetz legt die Modalitäten und Bedingungen für die Ausübung der in dieser Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten fest, ohne dass diese jedoch in ihrem Grundgehalt beeinträchtigt werden dürften. Derartige Einschränkungen dürfen nur insoweit eingeführt werden, als sie für einen zivilen, demokratischen Staat erforderlich sind, dem Schutz der Rechte Dritter dienen oder ihren Grund in den Erfordernissen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Verteidigung, der öffentlichen Gesundheit oder der öffentlichen Moral haben, vorausgesetzt die Verhältnismäßigkeit zwischen diesen Einschränkungen und dem angestrebten Ziel bleibt gewahrt. Die Justizorgane stellen sicher, dass die Rechte und Freiheiten vor jeder Verletzung geschützt werden."
Als Grundlage für ihr Vorgehen gegen Café- und Restaurantbesitzer dient dem Innenministerium die sogenannte "Mzali-Verordnung". Gemäß der 1981 zu Zeiten der Regierung Habib Bourguibas vom damaligen Innenminister Mohamed Mzali erlassenen Verordnung, müssen die meisten Cafés und Restaurants in Tunesien während des Ramadans tagsüber schließen. Ausgenommen sind davon hauptsächlich gastronomische Betriebe, die sich an Touristen richten. Sie erhalten eine Sondergenehmigung, müssen allerdings ihre Fensterfronten mit Zeitungspapier abdecken, so dass nicht zu erkennen ist, wer sich im Inneren aufhält. Außerdem dürfen sie ausschließlich nicht-muslimische Touristen aus dem Ausland bewirten. Diese Verordnung hat das Innenministerium für den Ramadan 2018 wieder in Kraft gesetzt.
Strafrechtliche Verfolgung von Fastenbrechern
Vor dem Hintergrund dieses "gesetzlichen Durcheinanders" sollte man wissen, dass es in Tunesien bis heute kein Gesetz gibt, dass die öffentliche Nichteinhaltung des Fastengebots explizit unter Strafe stellt. Allerdings bedienen sich die Behörden des Vorwurfs der "Erregung öffentlichen Ärgernisses", um die Fastenbrecher strafrechtlich zu belangen. Im vergangenen Jahr widerfuhr dies beispielsweise einigen Jugendlichen – ein Fall der zahlreiche Protestaktionen von Menschenrechtsorganisationen nach sich zog.
Von Abgeordneten nach den Gründen für diese freiheitseinschränkenden Maßnahmen befragt, antwortete Tunesiens Innenminister Lotfi Brahem, während dessen Amtszeit individuelle und kollektive Freiheitsrechte in bisher nie da gewesenem Ausmaß verletzt wurden, dass "die Erlaubnis während des Ramadans tagsüber Cafés zu öffnen, durch Extremisten instrumentalisiert werden könnte, um gegen den Staat zu hetzen und Terroranschläge zu rechtfertigen. Insbesondere da es im Ramadan vermehrt zu Anschlagsdrohungen durch verschiedene radikal-islamistische Gruppierungen kommt."
Brahem erklärte außerdem, dass sein Ministerium versuche, "eine Balance herzustellen zwischen der Aufgabe die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und der Pflicht, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die freie Religionsausübung zu schützen, so dass weder die religiösen Gefühle der Fastenden verletzt, noch die gesetzlich garantierten persönlichen Freiheitsrechte der anderen eingeschränkt werden."
Weiter angeheizt wurde die Debatte als der Minister während einer Anhörung vor dem Parlament sagte, dass die Minderheit der Nichfastenden der fastenden Mehrheit der tunesischen Gesellschaft Respekt zeigen müsse. Viele Stimmen warfen ihm daraufhin vor, er "spalte die tunesische Gesellschaft" und "flirte mit der islamistischen Ennahda-Bewegung" aufgrund seiner politischen Ambitionen für das kommende Wahljahr.
Ein gesellschaftlicher Konsens der Widersprüche
Die Kontroverse um das öffentliche Nichtfasten im Ramadan macht deutlich, dass die tunesische Verfassung, die im Rahmen eines "politischen Konsens" geschrieben wurde, nicht notwendigerweise einen "gesellschaftlichen Konsens" wiederspiegelt. Der Verfassungstext garantiert zwar in Artikel 6 die Glaubensfreiheit, allerdings lassen die Formulierungen durchaus Raum für widersprüchliche Interpretationen.
Der Artikel verpflichtet einerseits den Staat zum Schutz vieler Rechte. Andererseits knüpft er diese Rechte an Faktoren, die mit ihnen im Widerspruch stehen. Dies gilt zum Beispiel für die Glaubensfreiheit, die mit dem "Schutz von allem, was heilig ist vor Angriffen" in Konflikt geraten kann. Dadurch erscheint das Recht auf Glaubensfreiheit ausgehöhlt und seiner Intention beraubt, insbesondere weil es eine Vielzahl von Lesarten gibt, die eine Konversion oder mangelnde Frömmigkeit als "einen Angriff auf alles, was heilig ist" auslegen könnten, der als solcher entsprechend bestraft werden müsste!
Insbesondere diejenigen Artikel der tunesischen Verfassung, die die individuellen und kollektiven Freiheiten behandeln oder die Sphäre der Religion berühren, wirken wie das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen zwei starken Parteien (den Islamisten und den Säkularen), die mit allen Mitteln versucht haben, sicherzustellen, dass ihre jeweiligen intellektuellen und philosophischen Traditionen in der Verfassung ihren Niederschlag finden. Ein fataler Fehler, denn eine Verfassung sollte dem gesellschaftlichen Bewusstsein, ihrer Kultur und ihren Bestrebungen in einem bestimmten historischen Moment Ausdruck verleihen, ohne dabei in wohlklingende Floskeln und rhetorische Ausschmückungen zu verfallen oder einen Konsens vorzutäuschen, den es womöglich gar nicht gibt.
Denn wo tatsächlich ein gesellschaftlicher Konsens vorhanden ist, sollte es den Gesetzgebern nicht schwerfallen, diesen auch schriftlich zu fixieren. Ist dies aber - wie im arabisch-muslimischen Raum zu großen Teilen - nicht der Fall, ist es unmöglich, die Kluft zwischen den verschiedenen Standpunkten so zu überwinden, indem ein Verfassungsartikel schlicht für nichtig erklärt wird. Verfassungsartikel dürfen jedoch keine bloßen Lippenbekenntnisse bleiben oder gar durch Gesetze torpediert werden, die der Verfassungsnormen zuwiderlaufen.
Die Tunesier und Tunesierinnen werden daher auch in Zukunft immer wieder derartige Kontroversen erleben. Vielleicht muss es in dieser Phase auch so sein: Ein erster Schritt in einem schmerzhaften Aushandlungsprozess auf intellektueller, politischer und gesellschaftlicher Ebene, der vielleicht eines Tages zu einer grundsätzlichen Überwindung der Spannungen führt, die eine freiheitliche Ordnung nun mal mit sich bringt.
Ismael Dbara
© Qantara.de 2018
Der Autor ist tunesischer Journalist und Vorstandsmitglied des "tunesischen Zentrums für Pressefreiheit"
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne