Ein endloses Sprachenwirrwarr
Die Integration von Begriffen und Ausdrücken aus der marokkanischen Umgangssprache (der marokkanischen Dialektvariante des Arabischen) in die Grundschulbücher sorgte zu Beginn des neuen Schuljahres für großen Diskussionsstoff in Marokko. Die Debatte entfachte aufs Neue die eigentlich nie gänzlich verschwundene Kontroverse um das Sprachenwirrwarr, in dem sich die Marokkaner zurechtfinden müssen: Nicht nur im Bildungssystem, der Verwaltung und den staatlichen Institutionen sind sie mit unterschiedlichen Sprachen konfrontiert, auch untereinander benutzen die Menschen verschiedene Umgangssprachen.
Im marokkanischen Bildungssektor sind Arabisch und Französisch die vorherrschenden Sprachen, in einigen Fällen wird auch auf Englisch oder Spanisch unterrichtet. Zuhause oder auf der Straße sprechen die Menschen entweder die marokkanische Umgangssprache oder Tamazight, die Sprache der "Berber" beziehungsweise Imazighen. Im Umgang mit dem Verwaltungsapparat sind sie hingegen gezwungen, auf Französisch zu kommunizieren. Staatliche Stellen und Medien richten sich wiederum auf Hocharabisch an die Marokkaner.
Stetig nachlassende Qualität im Bildungsbereich
Dieser Sprachenwirrwarr wirkt sich auch auf die Qualität der Bildung aus, die trotz zahlreicher Reformversuche in den vergangenen Jahren stetig nachgelassen hat. Das marokkanische Bildungssystem befindet sich in einer strukturellen Krise, die nicht zuletzt mit dem Fehlen eines wirklichen politischen Willens zusammenhängt, Bildung als ein Mittel des sozialen Aufstiegs zu gestalten.
Anstatt die Krise des Systems anzupacken, richten manche ihre Kritik lieber auf die arabische Sprache per se, die sie für das Scheitern des marokkanischen Schulsystems verantwortlich machen. Die Umgangssprache beziehungsweise der marokkanische Dialekt wurden hingegen als vermeintliches Allheilmittel gegen die chronischen Probleme im Bildungssektor auserkoren.
Diejenigen, die sich für die Einbeziehung der Umgangssprache ins Bildungssystem aussprechen oder gar dafür plädieren, dass sie in diesem Bereich anstelle des Hocharabischen verwendet wird, argumentieren, dass der Dialekt die Muttersprache der Mehrheit der Marokkaner ist.
Abgesehen davon, dass sie gemäß der internationalen Menschenrechtscharta ein Anrecht auf Bildung in der Muttersprache hätten, trage die Vermittlung der Primärbildung anhand des Dialekts dazu bei, dass der Lernstoff schneller und besser aufgenommen und verstanden werden könne, als dies in anderen Sprachen der Fall sei.
Die Gegner der Integration von umgangssprachlichen Ausdrücken in den Schulunterricht sehen in diesem Schritt einen Versuch, die arabische Sprache zu verdrängen und befürchten, dass das bereits jetzt existierende niedrige Niveau der Bildung sich noch weiter verschlechtert. So werde die kognitive und kommunikative Entwicklung der Kinder auf einen gesprochenen Dialekt beschränkt, der nur in Marokko verbreitet sei.
Lagerbildung im Sprachenkonflikt
Die Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der Maßnahme hat zu einer scharfen Lagerbildung zwischen den Verteidigern der arabischen Hochsprache und den Verfechtern der Umgangssprache geführt. Während erstere die arabische Sprache als Träger von Geschichte, Kultur und Identität verstehen, teilen sich letztere in zwei Gruppen auf: einerseits die Verfechter der marokkanischen Umgangssprache und andererseits diejenigen, deren Einsatz für den Dialekt eigentlich auf die Stärkung des Französischen abzielt - und zwar nicht nur der Sprache, sondern auch der damit einhergehenden Werte, der Lebensart und des symbolischen sozialen Kapitals, das die französischsprachigen Marokkaner von denjenigen abhebt, die der Sprache Molières nicht mächtig sind.
Es gilt jedoch, ohne Rücksicht auf diese Lagerbildung einige Punkte etwas genauer in Betracht zu ziehen, um zu verstehen, warum die marokkanische Umgangssprache überhaupt in die Lehrpläne integriert wird, warum dies ausgerechnet jetzt passiert, welche Konsequenzen dieser Schritt haben könnte und welche impliziten Ziele damit verfolgt werden.
Erstens: Die Maßnahme wurde nicht im Parlament debattiert. Auch haben weder der Ministerrat unter dem Vorsitz des Königs noch der Regierungsrat das Vorhaben abgesegnet. Im Gegenteil, der Ministerpräsident hat sich inzwischen sogar von dieser Entscheidung distanziert und den Bildungsminister aufgefordert, gegenüber der Öffentlichkeit unmissverständlich Stellung zu dem Sachverhalt beziehen. Er versprach zudem, den bereits umgangssprachlich überarbeiteten Unterrichtsstoff revidieren zu lassen. Diese Maßnahme kam offenbar für alle Seiten überraschend. Bislang gab es keine Gelegenheit, die Thematik im öffentlichen Rahmen zu diskutieren. Auch die Meinung von Fachleuten und Experten wurde nicht eingeholt, stattdessen wurde der Schritt in einer Nacht- und Nebelaktion beschlossen.
Zweitens: Die marokkanische Verfassung legt fest, dass Arabisch die Amtssprache Marokkos ist. Tamazight hat demgegenüber den Status als anerkannte Nationalsprache, während die marokkanische Umgangssprache nicht erwähnt wird. Tatsächlich verlieren aber sowohl Hocharabisch als auch Tamazight (und der Dialekt) angesichts der Dominanz des Französischen im Finanzsektor, der Wirtschaft sowie der Verwaltung und den Medien zunehmend an Bedeutung.
Drittens: Die derzeitige Debatte über den Schritt, der offenbar alle Seiten vor vollendete Tatsache stellen sollte, konzentriert sich auf die sprachliche und pädagogische Dimension und ignoriert die viel wichtigeren politischen und ideologischen Hintergründe dieser Entscheidung, die mit Sicherheit nicht ohne Hintergedanken gefällt wurde.
Viertens: Die Forderung einiger Vertreter beider Seiten nach einer klaren Parteinahme für das Hocharabische beziehungsweise den Dialekt ist im Grunde genommen eine Scheindiskussion, die von der eigentlich notwendigen Debatte um die Hintergründe und politisch-ideologischen Dimensionen der Entscheidung ablenken soll. Das Hocharabische und der marokkanische Dialekt koexistieren seit Jahrhunderten und der Wortschatz der Umgangssprache basiert größtenteils auf der Hochsprache. Außerdem werden beide durch die Dominanz des Französischen zurückgedrängt.
Fünftens: Der Versuch, mit Hilfe des marokkanischen Dialekts das bankrotte Bildungssystem zu retten, wird die Krise nur verschärfen. Damit würde man den Bock zum Gärtner machen, denn die marokkanische Umgangssprache ist keine Sprache mit einer festgelegten Grammatik im eigentlichen Sinn. Sie ist eher eine Mischung aus Wörtern und Begriffen verschiedenster Sprachen, mit denen die Marokkanerinnen und Marokkaner tagtäglich konfrontiert sind. Abgesehen davon, dass der Dialekt sich außerdem sich stetig wandelt und seine Begriffe und Redewendungen sich ständig ändern, kann man auch nicht von einem einheitlichen Dialekt sprechen, da je nach Region unterschiedliche Ausprägungen gesprochen werden.
Sechstens: Neben Hocharabisch, Französisch und anderen Sprachen wird auch die Umgangssprache bereits jetzt im Bildungssystem verwendet. Sie hat ihren Platz beispielsweise im Rahmen von Erklärungen und Diskussionen, aber auch untereinander sprechen die Menschen in den Klassen, Schulen, Instituten und Universitäten zumeist mit dem marokkanischen Dialekt.
Siebtens: Ausgerechnet jene, die sich über die Unzulänglichkeiten des Hocharabischen echauffieren und die Sprache als zu kompliziert, nicht zeitgemäß und nicht ausreichend anpassungsfähig brandmarken, verteidigen die französische Sprache mit am vehementesten gegen Veränderungen. Verbissener als die Franzosen selbst, bestehen sie auf die Reinheit der Sprache und die Einhaltung von Grammatik, Rechtschreibung und Aussprache!
Achtens: Dass nun das Hocharabisch ins Visier genommen wird, ist nicht nur auf dessen komplizierte und wenig fehlertolerante Grammatik zurückzuführen. Es hängt auch mit den Werten zusammen, die es transportiert. Eine Sprache ist kein leeres Gefäß, sie vermittelt eine bestimmte Art zu denken und spiegelt die Kultur und Identität derjenigen, die sie sprechen. Wer sie ins Visier nimmt, kritisiert gleichzeitig auch die Werte, die Kultur und Geschichte sowie die Identität und das Denken, für die sie steht.
Neuntens: Als Marokko kurz nach der Unabhängigkeit von Frankreich Mitte des letzten Jahrhunderts die Arabisierung des Bildungssystems beschloss, war das erklärte Ziel, dem Hocharabischen wieder zu seiner angestammten Bedeutung zu verhelfen und die kolonial bedingte Dominanz des Französischen zu brechen. Nach Jahrzehnten der Arabisierung ist aber deutlich geworden, dass dadurch Französisch, das weiterhin die Sprache der gesellschaftlichen Elite blieb, sogar aufgewertet wurde. Im Gegensatz dazu entpuppte sich die sprachliche Arabisierung der restlichen Gesellschaft als hemmend für die soziale Durchlässigkeit. Die Überlegenheit der frankophonen Elite gegenüber den Bevölkerungsteilen die Arabisch, Tamazight oder Dialekt sprechen, wurde sogar noch zementiert.
Nachdem mittlerweile Teile der islamistischen Bewegung ins politische Leben integriert wurden, könnte das Pendel womöglich umschlagen. Denn ihre Basis bilden Menschen, die ihre Ausbildung auf Hocharabisch absolviert haben und die Werte, die Weltanschauung und die Kultur verkörpern, die mit dieser Sprache assoziiert werden. Entsprechend ist sie für die Gegner der Islamisten ein strategisches Ziel geworden: Um ihren zunehmenden Einfluss langfristig zu stoppen, nehmen sie die Lehrpläne ins Visier, die in einer Sprache unterrichtet werden, die die Verbreitung ihrer Werte, ihres Weltbildes und ihrer Ideologie vereinfachen.
Zehntens: Vor fünf Jahren sagte der marokkanische Intellektuelle Abdallah al-Arawi in Verteidigung des Hocharabischen, dass die Marokkaner sich durch die Einführung des Dialekts als Unterrichtssprache von der Außenwelt abschotten würden. Mehr noch, es hieße ein jahrhundertealtes Erbe aufzugeben, das Marokko mit 300 Millionen Nutzern der "Sprache des Ḍād" verbindet. Einer Sprache, die sich durchaus täglich weiterentwickelt, um gegenüber den anderen Weltsprachen konkurrenzfähig zu bleiben.
Gesellschaftlich gesehen, warnte der Historiker, würden so billige und willfährige Arbeitskräfte produziert – intellektuelle Analphabeten, die nur lernen, was sie brauchen, um gefügige Arbeiter zu werden.
Ali Anouzla
© Qantara.de 2018
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne
Ali Anouzla ist marokkanischer Autor und Journalist sowie Leiter und Chefredakteur der Website "lakome.com". Er hat mehrere marokkanische Zeitungen gegründet und redaktionell geleitet. 2014 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED (Project on Middle East Democracy).