Die Konstruktion des Selbst und des Anderen
Im letzten Jahr wurde an den 50. Jahrestag des so genannten Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei erinnert, durch das die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen – ein Ereignis, das von türkischen wie deutschen Politikern medienwirksam gefeiert wurde.
Doch kaum war die Tinte getrocknet, mit der die Artikel zu diesem Jubiläum verfasst wurden und die Jubiläumsreden verklungen, wurden Deutschlands Migranten von der bundesweiten Terrorserie der Zwickauer Neonazis aufgeschreckt. Erst Ende 2011 wurden die genauen Umstände dieser im Zeitraum von 2000 bis 2006 begangenen Mordserie bekannt. Für viele Migranten wurden erneut Erinnerungen wach an den Brandanschlag von Mölln in Schleswig-Holstein, bei dem im Jahr 1992 drei türkischstämmige Frauen getötet wurden, eine ältere Frau mit zwei Enkelinnen.
Ich möchte nicht alarmistisch klingen und ich glaube auch nicht, dass die gesamte deutsche Gesellschaft Ressentiments gegen türkische Einwanderer hegt. Und doch läuft etwas grundsätzlich falsch, wenn Hassdelikte gegen Migranten, und zwar gegen offensichtlich fremd aussehende Einwanderer, möglich sind – und das in einer Zeit, da viele von ihnen bereits seit drei Generationen in Deutschland leben.
Noch beunruhigender als dies mag aber etwas sein, auf das Einwanderer und türkische Intellektuelle aus der Einwanderergemeinde hinweisen: dass unter ihnen das Vertrauen in den deutschen Staat schwindet, von diesem angemessen geschützt zu werden. Wie konnte es dazu kommen?
Auf Distanz
Die ersten Gastarbeiter wurden nach Deutschland geholt, um am "deutschen Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg mitzuwirken. Schon allein der Begriff "Gastarbeiter" suggerierte, dass es sich nicht um eine reguläre Einwanderung handeln sollte. Dabei haben die europäischen Staaten durchaus eine Politik der Arbeitseinwanderung und Gesetze zur Familienzusammenführung: nicht alle Fremden, die nach Europa kommen, sind politische Flüchtlinge oder suchen Asyl. In vielen europäischen Staaten hat es eine aktive Politik der Arbeitskräfteanwerbung gegeben. Was aber bedeutet dies in konkreten Zahlen ausgedrückt?
Die größten Gemeinden von Bürgern mit Migrationshintergrund leben in Deutschland und Österreich, mit jeweils etwa neun bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. In den Niederlanden und in Frankreich liegt dieser Anteil bei etwa sechs Prozent, in Italien und Spanien dagegen nur bei vier Prozent.
Wenn uns dieser Blick auf die Zahlen auch verrät, dass sie, zumindest für die Mehrzahl der Länder, keineswegs bedrohlich sein können, so ist doch ein Prozess zu konstatieren, den ich als "Othering" bezeichnen möchte ("Othering" bezeichnet die Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, von anderen Gruppen).
Dieser Distinktion sind zunehmend Arbeitsmigranten aus nicht-europäischen Ländern wie Marokko oder der Türkei – und immer mehr auch politische Flüchtlinge aus dem Irak und aus Afghanistan – ausgesetzt. Zum Teil kam es zu diesem "Othering" im Zuge des europäischen Einigungsprozesses, da Italiener, Spanier und Griechen nun auch Teil des Wirtschaftswunders in Ländern wie den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Deutschland, und damit zu "Europäern" wurden.
Rekonstruierte Migranten-Identitäten
Und was geschah mit den anderen? Aus ihnen wurden "Angehörige von Drittländern" und zunehmend auch einfach nur "Muslime". Auf diese Weise kam es zu einer Re-Konstruktion der Migranten-Identitäten unter den Bedingungen der jeweiligen Einwanderungsgeschichte. Hierzu möchte ich noch etwas ausführen, da es sonst scheinen könnte, als kämen die Migranten aus diesen Ländern mit dem Wort "Islam" auf der Stirn geschrieben. Das ist natürlich Unsinn.
Die Identität eines jeden Migranten bildet sich im Verlauf eines dynamischen Wechselspiels aus dem, was er in seinem Herkunftsland hinter sich lässt und dem, was er in seiner neuen Umgebung vorfindet. Die türkischen Einwanderer in Deutschland etwa wurden immer religiöser, was sowohl an den Entwicklungen in der Türkei lag – vor allem am Aufstieg der AKP – als auch an der immer größeren Verbreitung von Koranschulen, die seit den 1980er Jahren insbesondere von deutschen Konservativen vorangetrieben wurde.
Die Koranschulen wurden von der CDU-CSU zugelassen, da man glaubte, es sei eine gute Idee, dass die Muslime in Deutschland – und hier natürlich vor allem der türkischen Gemeinde – dadurch mehr religiöse Bildung erfahren könnten. Bis heute aber wird die Debatte geführt, ob der Aufbau der so genannten muslimischen oder islamischen Glaubensgemeinden ein probates Mittel ist, um die Integration der türkischstämmigen Bürger in die Mehrheitsgesellschaft zu fördern.
Dies ist zum Teil der konfessionellen Dynamik Deutschlands geschuldet, das Protestantismus, Katholizismus und das Judentum als offizielle Religionen anerkennt. Deutschland ist kein laizistisches Land. Ist man Mitglied einer der christlichen Kirchen oder einer jüdischen Gemeinde, muss man Kirchensteuer (bzw. Kultussteuer) entrichten. Das Problem ist, dass dieses Verfahren natürlich die Muslime diskriminiert, da der Staat ihnen nicht dabei hilft, ihre Moscheen zu bauen oder ihre Vereinigungen zu gründen.
Es geht also um die Neutralität des Staates und diese Neutralität soll nach dem Grundgesetz durch die Anerkennung der religiösen Gemeinschaft gewährleistet sein. Tatsächlich aber handelt es sich hierbei um die Durchsetzung einer bestimmten Definition kollektiver Identität gegenüber anderen Definitionen, da in der Türkei selbst noch immer ein erbitterter Kampf zwischen der laizistischen und der muslimischen Identität ausgefochten wird und es deshalb gar keine klare muslimische Identität geben kann.
Deshalb sollten wir uns die Konstruiertheit religiöser Identität immer wieder bewusst machen, und dies gilt insbesondere für die islamische Identität im europäischen Kontext. Jede Gruppe von Migranten in Europa hat ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Weg.
Die Folgen politischer Entfremdung
Zum einen haben wir es heute sowohl mit einer Situation großer wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun, da Europa seine womöglich schwerste ökonomische Krise seit 30 Jahren erlebt, als auch mit einem Prozess der politischen Entfremdung, bei dem das Konstrukt Europäische Union immer technokratischer und damit immer weniger verständlich für die meisten ihrer Bürger wird.
Tatsächlich gibt es dieses Problem der immer größeren Technokratie, das gelöst werden muss. Innerhalb dieses Kontextes werden, um einen Satz Zygmunt Baumans aufzugreifen, "Fremde als Gefahr" wahrgenommen, was unter Bedingungen politischer Entfremdung und ökonomischer Instabilität umso mehr zutrifft. Fremde sind als solche zu erkennen, man "riecht sie förmlich".
Zum anderen sind wir Zeugen eines allgemeinen Niedergangs der politischen Eliten, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Ich glaube, dass die technisch-mediale Globalisierung den unabhängigen und ehrenwerten Staatsmann abgelöst hat. Wir haben es immer häufiger mit Politikern zu tun, die offenbar Lügner sind, Entertainer oder sich eines kitschigen Pathos bedienen, was viel mit der gegenwärtigen Medienpolitik zu tun hat.
Dafür reicht es aus, sich anzuschauen, wie in den letzten Monaten Kandidaten aufgebaut wurden, um im nächsten Moment wieder von der Bildfläche zu verschwinden, die Charade amerikanischer Politik. "Sex sells", aber er unterhält eben nicht nur, sondern hält uns auch davon ab, uns mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen.
Ferner denke ich, dass gegenwärtig auch zu viel Opportunismus unter den Intellektuellen herrscht. Ich nenne es "Opportunismus", weil die Antwort auf die Salman Rushdie-Affäre nicht darin bestehen kann, den Islam zu verurteilen, sondern vielmehr darin bestehen muss, zwischen Khomeini, der die Fatwa seinerzeit aussprach und allen anderen zu unterscheiden.
Wie in jeder zivilisatorischen Tradition und wie in jeder großen Religion, hat auch der Islam seine eigenen Debatten, Diskussionen, Fanatiker und toleranten Anhänger. Ich meine, wo wären wir, wenn uns die europäischen Intellektuellen – und hier vor allem die französischen und die niederländischen – sagen würden, dass Aufklärung einzig und allein im Rahmen eines "protestantischen Fundamentalismus" stattfinden kann?
Und ist es wirklich zutreffend, dass es im Verhältnis zwischen Staat und Religion nur ein einziges Modell geben kann? Nein, denn bislang existieren weltweit die verschiedensten Modelle. Die Türkei beispielsweise orientiert sich an Frankreich, also einen ausgeprägt laizistischen Staat. In den USA haben wir den Ersten Zusatzartikel zur Verfassung und nun soll mir jemand die Geschichte dieses Artikels erklären, indem er sich dabei lediglich auf den simplen Gegensatz zwischen "Toleranz" und "Fanatismus" bezieht?! Das ist unmöglich.
Wo der Skandal beginnt, endet der vernünftige Dialog
Was sich gegenwärtig beobachten lässt, ist kein ernsthafter multikultureller Dialog zwischen den Zivilisationen, bei dem jeder versucht, den Standpunkt des anderen zu verstehen. Stattdessen debattieren europäische und auch einige amerikanische Intellektuelle fast pausenlos über den "Islamo-Faschismus" und blockieren damit jeden Ansatz für einen unaufgeregten, sinnvollen Dialog.
Angefangen bei der Kopftuch-Debatte, den Ehrenmorden, bis hin zu den Zwangsehen, usw. Es ist ja nicht so, als wenn diese gravierenden Probleme unter den Einwanderern nicht existierten, doch wählt man nur diese Aspekte aus, um damit den Anderen zu definieren, reduziert man ihn auf seine Andersartigkeit und tendiert zur Skandalisierung. Und da, wo der Skandal beginnt, endet jeder vernünftige Dialog.
Ist man dagegen ernsthaft bemüht, mit diesen Gemeinschaften in Kontakt zu treten, dann muss man das tun, was auch einige der Frauengruppen tun: nämlich in die Gemeinschaften gehen und genau das Gespräch suchen, das dort auch als relevant und notwendig erachtet.
Was jedoch die europäische Politik anbelangt, so bin ich zurzeit wenig hoffnungsvoll. Wenn es für mich Anlass zur Hoffnung gibt, hat dies eher mit den Rändern des Kontinents zu tun. Sie kommt von den neuen Migranten-Generationen, die sich selbst als "Mischmasch" bezeichnen: Türken, die die Sprache ihres Landes nicht sicher beherrschen, aber doch soweit, dass sie Widerworte finden und so dafür sorgen, dass sie nicht nur Gegenstand der Debatte sind.
Şeyla Benhabib
© ResetDoc 2012
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Şeyla Benhabib ist Professorin für Politische Wissenschaften und Philosophie an der Yale University und Vorsitzende des dortigen Programms für Ethik, Politik und Wirtschaft.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de