Im Gefängnis der Ideologien
1989 wehte in den meisten osteuropäischen Ländern der Wind des demokratischen Wandels. Die Zeichen standen auf Veränderung und kündigten den Zerfall der Sowjetunion an, deren System längst zu bröckeln begonnen hatte.
Das internationale Klima zum damaligen Zeitpunkt bereitete den bürgerlichen Protesten in Ostdeutschland bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) einen fruchtbaren Boden. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR erhoben sich zur "friedlichen Revolution" und riefen zum Sturz des Einparteiensystems und der Schreckensherrschaft des "Staatssicherheitsdienstes" (Stasi) auf – mit Erfolg: Mit dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung nach 40 Jahren der Teilung ging auch eine Ära des Schreckens zu Ende.
Von Erfolg sind friedliche Revolutionen jedoch nicht immer gekrönt, wie die Syrerinnen und Syrern im Gegensatz zu ihren ostdeutschen Vorgängern erfahren mussten, als sie sich gegen die Tyrannei des Assad-Regimes erhoben.
Denn die friedliche Revolution in Syrien, die im März des Jahres 2011 ihren Anfang nahm, entwickelte sich in ihrem Verlauf schrittweise zu einem offenen Krieg, innerhalb dessen landesinterne Gegebenheiten auf ungünstige Weise mit regionalen und internationalen Konflikten verschmolzen.
Gründe für das Scheitern der friedlichen Revolution in Syrien
Zu den maßgeblichen Ursachen für die verheerende Entwicklung des Konflikts gehören mitunter die Einmischung externer Akteure sowie die übermäßige Gewaltanwendung des Assad-Regimes, unter dem die Menschen bis zum heutigen Tage getötet, weggesperrt und vertrieben werden. Des Weiteren keimten im Zuge des Konflikts terroristische Gruppierungen auf, die die Tyrannei des Regimes um ihren eigenen religiösen Terror ergänzten. All dies geschah und geschieht zu Lasten der syrischen Zivilbevölkerung.
Zweifellos finden sich zwischen Syrien, seiner Gesellschaft und seiner Revolution und der damaligen Situation in Ostdeutschland zahlreiche Unterschiede, darunter in den Verwaltungs-, Wirtschafts- und Bildungssystemen sowie in Hinblick auf die Lebensstandards der jeweiligen Länder. Weitere Unterscheidungsmerkmale sind die Verschiedenheit der Volksgruppen und Konfessionen, die Rolle von Religion in der Gesellschaft sowie die Struktur von Familien und sozialen Beziehungen.
Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen sind nicht zu übersehen. Zu den Spezifika des Assad-Regimes zählt seine allmähliche Entwicklung von einem despotischen Regime zu einer dynastischen Alleinherrschaft der Assad-Familie, denn der Clan saß bereits zum Zeitpunkt der Machtübernahme an den entscheidenden Machthebeln im Land und dreht bis heute die Stellschrauben in Syrien.
Gemeinsame Merkmale autoritärer Regime
Trotz all dieser Unterschiede lassen sich bei autoritären Systemen in bestimmten Stadien ihrer Entwicklung auch Gemeinsamkeiten identifizieren. Durch die vermeintliche Adaption moderner Ideologien wird eine Fassade aufgebaut, hinter der bei genauerem Hinsehen ein rigider Polizeistaat zum Vorschein kommt. Dies lässt sich sowohl im Fall der Deutschen Demokratischen Republik als auch in Syrien unter der Herrschaft des Assad-Regimes und der Baath-Partei beobachten.
Autoritäre Systeme weisen in der Regel folgende zwei Grundpfeiler auf: eine politische Ideologie sowie die allgemeine Verbreitung von Furcht und Schrecken, oder vielmehr von organisiertem Terror seitens des repressiven Staatsapparates gegen seine Bürger.
Die Ideologie als die vermeintliche Identität des Regimes erscheint auf der Oberfläche und bildet die Hülle eines repressiven Systems, welches sich in seinem Kern als autoritär, gewalttätig und repressiv offenbart.
Dem Assad-Regime dienten die Ideologie des "Panarabismus", seine "sozialistischen" Parolen und die angebliche "Volksdemokratie" letztendlich nur als Propagandamittel, um das eigene Bild aufzupolieren und ihm eine ideologische Legitimation zu verleihen. Gleiches gilt für die vermeintliche "Demokratie" und den "Sozialismus" in der Deutschen "Demokratischen" Republik.
Alle Macht geht von Volke aus, sie wird von gewählten Repräsentanten ausgeübt – so sollte es sein in einem demokratischen System. Die tatsächliche Macht jedoch – sei es in Syrien unter Assad oder in der DDR – liegt in der Hand der jeweiligen Regime.
Hinter den Kulissen des Einparteienregimes mit seinen ideologischen Parolen und unter direkter Aufsicht seiner autokratischen Führer, ob Honecker oder Assad, und ihrer Handlanger, ist eine Sicherheitsstruktur aufgebaut, die über ihre Geheimdienste alles im Staat kontrolliert.
Diffuses Gefühl der Furcht
Die dominante Präsenz von Sicherheitsapparat und Ideologie erstreckt sich vom Staat auf seine Organisationen und bis in die gesamte Gesellschaft hinein. Vielleicht lohnt es sich an dieser Stelle, daran zu erinnern, dass mit der Einschulung der Kinder in Syrien auch der Eintritt in die "Organisation der Baath-Pioniere" erfolgt: Jeden Morgen müssen sie in der Schule im Chor Lobeshymnen auf Assad, den ewigen Führer Syriens, dessen Familie, die das Land seit 1970 regiert, singen und die "Arabische Sozialistische Baath-Partei" preisen, die in Syrien durch einem Militärputsch am 8. März 1963 an die Macht kam. Für die Mittel- und Oberstufe werden die Schüler dann völlig automatisch zu Mitgliedern der "Revolutionären Jugendunion", die der Baath-Partei angegliedert ist.
Unsere Kindheit ist voller Ideologie und großer Phrasen, deren Bedeutung sich uns nicht erschließt. Uns begleiten diffuse Gefühle der Furcht. Wir absorbieren die Ängste unserer Eltern, ihre chronische Unsicherheit und ihr stetiges Unbehagen. Dieser Argwohn breitet sich bis in unsere Häuser aus - selbst hier wählen unsere Eltern ihre Worte mit Bedacht, es wird nichts besprochen, was uns in Schwierigkeiten bringen könnte, denn "die Wände haben Ohren".
Im weiteren Verlauf unseres Heranwachsens erschließt sich uns nach und nach die Wirklichkeit, und wir erkennen die Repression und die Tyrannei des Systems, das uns regiert und in dem wir leben.
Wir dachten, dass diese Form des Despotismus auf rückständige Staaten, "Entwicklungsländer" der "Dritten Welt" gemäß der damals üblichen Bezeichnung, beschränkt sei.
Doch mit unserem zunehmenden Interesse an politischer und historischer Lektüre wuchs in uns auch die Erkenntnis heran, dass die fortschrittlichen Industriestaaten in Europa selbst das durchlitten hatten, was wir heute erleiden.
Eine Gesellschaft in Ketten gelegt
Tatsächlich lassen sich viele Muster erkennen, die unsere Länder sogar von dort übernommen haben, darunter das Gefängnis der Ideologien und eisernen Organisationen, welche die Gesellschaft in Ketten legen, wie es uns das "sozialistische Lager" und insbesondere die "Deutsche Demokratische Republik" vorgelebt hat.
Wie wir jetzt sehen können, ist es den Kindern der DDR – zumindest in Bezug auf die Angst und die ideologische Hegemonie – nicht besser als uns ergangen und das Leben ihrer Eltern war nicht weniger von Furcht und Vorsicht geprägt als das der unseren.
Um an dieser Stelle wieder auf die Entwicklungen um die Revolution und den Krieg in Syrien zurückzukommen, so lässt sich beobachten, dass sich heute Bande einer ganz neuen Art zwischen Syrien und Deutschland knüpfen. Letzteres hat im Zuge des Kriegs viele Syrerinnen und Syrer mit offenen Armen aufgenommen.
Die Rückkehr der Rechten
In letzter Zeit erkennen wir allerdings einen allmählichen Rückgang der anfänglichen "Willkommenskultur", der mit dem Erstarken der migrationsfeindlichen extremen Rechten einhergeht. Diese Rechte pflegt einen rassistischen, ausgrenzenden und geschlossenen Diskurs, der wie jeder autoritäre Diskurs, Pluralismus und Vielfalt ablehnt.
Es gehört wohl zu den Paradoxien der Geschichte, dass die ostdeutschen Bundesländer, die vor dreißig Jahren gegen die Tyrannei der Willkür und des Autoritarismus für eine freie, demokratische Gesellschaft auf die Straße gingen, heute die Regionen sind, in denen der Einfluss dieser neuen rechten Strömung am größten ist. Die Vertreter rechter Parteien schrecken nicht einmal davor zurück, sich der Slogans der friedlichen demokratischen Revolution von 1989 zu bedienen, obwohl sie de facto für das Gegenteil ihrer Inhalte stehen.
Die Gefahr, die von dieser gewaltvollen rechtsextremen Strömung ausgeht, beschränkt sich nicht auf Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte. Sie stellt eine Bedrohung für unsere Freiheiten, die Vielfalt, die Demokratie und die aktuelle deutsche Gesellschaft als Ganzes dar. Inzwischen scheinen dies immer mehr Teile dieser Gesellschaft zu begreifen, wie sich auch in den Reden von Vertretern der großen Parteien und der Rhetorik der Medien nach dem rassistischen Anschlag in Hanau vor gut einem Monat gezeigt hat.
Aus ihnen sprachen nicht nur Mitgefühl und Solidarität mit den Opfern, von denen viele einen Migrationshintergrund hatten, sondern auch das klare politische und moralische Bekenntnis gegen den rechten Terrorismus sowie die damit verbundene Bedrohung für die Gesellschaft als Ganzes.
Demokratischer Kampf für eine offene Gesellschaft
Der demokratische Kampf für eine offene und pluralistische Gesellschaft, die der extremen Rechten standhalten kann, ist eine große Aufgabe, die jetzt von allen Seiten getragen werden muss: von der deutschen Zivilgesellschaft im Allgemeinen und von den Menschen mit Migrationshintergrund und den Syrerinnen und Syrern im Besonderen.
Es ist an der Zeit, zusammenzustehen und unsere Kräfte im gemeinsamen Bestreben nach Freiheit und Demokratie zu bündeln. Denn das Wesen von Repression und Despotie ist eins, wie zahlreich ihre Ausprägungen auch sind.
Die Revolutionen im Kampf für die Demokratie, sei es in Syrien, in Deutschland oder anderswo, sind nicht voneinander getrennt. So sehr sich die Umstände von Land zu Land und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden mögen, ihre Sache bleibt in ihrem Kern und in ihrer rechtlichen, politischen und moralischen Dimension ein universales und humanistisches Phänomen von globaler Tragweite.
Tarek Azizeh
© Qantara.de 2020
Aus dem Arabischen von Rowena Richter
Der syrische Journalist und Schriftsteller Tarek Azizeh war bis 2014 Dozent für Zeitgeschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am "Französischen Institut für den Nahen Osten" (IFPO) in Beirut, bevor er 2014 nach Deutschland kam. Von 2013 bis 2018 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim "Democratic Republic Studies Center", einem in Frankreich angesiedelten syrischen Zentrum für politische Studien.