Mythos Orient
Auf den Basaren fand man sie noch, die Dinge aus vergangenen Zeiten: Teppiche, Wandbehänge, Kisten, Truhen, Vasen und Geschirr. Anmutiges Kunstwerk, im späten 19. Jahrhundert in den großen arabischen Städten außer Gebrauch gekommen, und dem Forscher gerade deshalb lieb.
Wie mochte es gewesen sein, das Leben im Orient vor der Ankunft der Europäer – zu einer Zeit, als das Leben in Kairo, Beirut und Damaskus noch nach ganz anderen Rhythmen verlief? Vorstellbar war diese Zeit im späten 19. Jahrhundert eigentlich kaum mehr.
Ein europäisches Theater gebe es in Beirut nicht, schreibt der Archäologe Max von Oppenheim (1860-1946) in seinem Buch Vom Mittelmeer zum Persischen Golf, "wohl aber mehrere Cafés Chantants, in denen Bänkelsänger, französische Chansonetten und böhmische Damenkapellen sich hören lassen."
All dies ist angenehm, gewiss, und ein Zeichen fortschreitender Modernisierung. Aber es ist eben eine andere Zeit, eine Umbruchszeit, die in eine neue Epoche führt, über die die alte verloren geht. "Selbstredend fehlt es auch nicht an orientalischen Kaffeehäusern, in welchen arabische Musik gemacht wird.Aber es ist doch anders als früher: Die arabische Musik ist nur noch ein Unterhaltungsangebot unter mehreren, die Bürger und Besucher Beiruts haben die Auswahl, können frei entscheiden, was sie hören wollen. Das heißt aber auch, dass die Tradition, die Zeit, in der nur arabische Musik gespielt wurde, unwiederbringlich vorüber ist.
Der alte Orient nur noch als Kulisse
Der alte Orient ist bestenfalls noch Kulisse, das bemerkt Max von Oppenheim auch in Damaskus. Dort, berichtet er, könne er die Moscheen ohne Schwierigkeiten besuchen. "Nur einmal wurde ich an dem Besuche einer Moschee gehindert; es war dies in der Tekkije der tanzenden Derwische, welche hier noch nicht, wie an anderen Orten, aus ihren Religionsgebräuchen ein gewinnbringendes Gewerbe zu machen suchen."
Max von Oppenheim war ein scharfsichtiger Beobachter des Nahen Ostens. Sein Buch Vom Mittelmeer zum Persischen Golf ist voller hellwacher Bemerkungen zu den Umbrüchen, in denen die arabische Welt sich befindet. Und als Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats in Kairo verfasst er von 1896 mehrere hundert Berichte zur Lage im damals von den Briten regierten Ägypten, denkt darüber nach, wie Deutschland seinen Einfluss im Land am Nil mehren kann.
Im Herbst 1914, Deutschland befindet sich im Ersten Weltkrieg, leitet er die Nachrichtenstelle für den Orient. In diesem Amt denkt er darüber nach, wie sich die zunehmende Dominanz der nun mit Deutschland verfeindeten Briten und Franzosen im Nahen Osten brechen, zumindest verkleinern ließe. Seine Überlegungen fasst er in seiner Denkschrift, betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde zusammen.
Die Schrift offenbart einen glühenden Nationalisten, entschlossen, den Gegner unbedingt in die Schranken zu weisen: "Unsere Konsuln in der Türkei und Indien, Agenten usw. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren."
Dabei gelte es, "das religiöse Element, durch die Azhar-Moschee, die Brüderschaften etc. in den Vordergrund zu bringen." Mit kleinen Putschen und Attentaten würden sie dazu beitragen, "die Engländer in Ägypten noch kopfloser zu machen, wie sie es augenscheinlich schon sind."Der Plan ging bekanntlich nicht auf. Es waren nicht die Deutschen, sondern die Briten und Franzosen, die die Araber auf ihre Seite ziehen konnten. Aber eines sah Max von Oppenheim in aller Schärfe: Die Muslime ließen sich politisch mobilisieren. Es kam nur darauf an, ihre religiösen Empfindungen für die eigenen Zwecke zu nutzen, kurzum, den Glauben in den Dienst der Politik zu stellen.
Ein Maskenball
Doch was der Stratege Oppenheim empfiehlt, will der Privatmensch Oppenheim nicht wahrhaben: Der Orient ist im Umbruch, und dieser Bruch wird den Orient entstellen.
Noch ist das Sykes-Picot-Abkommen, in dem Frankreich und Großbritannien einen Großteil der arabischen Welt unter sich aufteilen, nicht unterschrieben. Aber Oppenheim ahnt, worauf der Erste Weltkrieg und dessen Folgen hinauslaufen werden.
In seiner Strategieschrift schreibt er es selbst: "Die zu erwartenden Repressalien werden, je grausamer sie einsetzen und je mehr sie, wie vorauszusehen, Unschuldige treffen, die Wut und den Fanatismus des Volkes vermehren." Die Worte lesen sich wie aus einem zeitgenössischen Handbuch zur Ausbreitung des Dschihad, der Pervertierung der Religion, wie sie für das späte 20. und 21. Jahrhundert so typisch ist. Aber es sind Oppenheims eigene Empfehlungen, ersonnen, um Briten und Franzosen aus dem Orient zu werfen.
Ein zynisches Spiel, dem Oppenheim im Privaten eine ganz andere Welt entgegensetzt: die des alten Orients, die sich zum einen in seiner unermüdlichen, über Jahrzehnte sich erstreckenden archäologischen Arbeit zeigt; und zum anderen in seiner Sammelleidenschaft, den Streifzügen durch die Bazare, auf denen er zusammenträgt, was sich aus dem alten, mythischen Orient erhalten hat.
Sorgsam schleppt er die Relikte zusammen, richtet sich seine Kairoer Villa ein, in der er zweimal im Jahr ein phantasievolles Kostümfest gibt. Sultane, Harmesdamen, Emire und Eunuchen geben sich dort ihr Stelldichein – inszeniert von den Spitzen der europäischen Gesellschaft, die in Oppenheims Villa die übliche Kleidung gegen die Kostümwelt des Hausherren eintauschen. Pauline Prinzessin von Thurn und Taxis ist dabei, Johannes Nepomuk Graf Praschma, Karl Egon Prinz zu Fürstenberg, um nur ein paar der Verkleidungswilligen zu nennen. Auch Karl May ließ sich sehen im Hause Oppenheim.
Liebe zum Mythos
Lange Jahre scheute Max von Oppenheim keinerlei Strapazen, um den nun in der Bundeskunsthalle zu sehenden Schatz des Tell Halaf zu bergen und den Menschen des Nahen Ostens und Europas gleichermaßen zu präsentieren.
Solche Kraft kommt ohne mächtige Motive nicht aus. Oppenheims Begeisterung für die arabische Welt ist, so weit man weiß, durch die Lektüre von Tausendundeiner Nacht geweckt worden. Eine mythische, längst untergegangene Welt also, die aber doch stark genug ist, ein über Jahrzehnte sich erstreckendes Lebenswerk in Gang zu setzen und zu halten. Vielleicht ist diese Liebe zum Mythos bis heute eines der stärksten Motive für all jene, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigen, ohne aus diesem zu kommen. Für all jene die Arabisch nicht als Muttersprache sprechen, sondern es über viele Jahre lernen.
Der Orient, verstanden als Mythos und Phantasielandschaft, setzt weiterhin starke Impulse frei, sich auf Kultur und Sprache der Region einzulassen. Sein ganzes Leben hindurch hat Oppenheim gezeigt, wie schwierig es ist, Orient und Nahen Osten in Einklang zu bringen. Sich verzaubern zu lassen, ohne darüber die Wirklichkeit der Region zu verkennen: das ist die Kunst, die bis heute den Kern aller Islam- und Regionalwissenschaften ausmacht.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2014
Die Ausstellung "Abenteuer Orient. Max von Oppenheim und seine Entdeckung des Tell Halaf" läuft noch bis zum 10. August 2014 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de