"In der Fremde sprechen die Bäume arabisch"
Im Aarauer Asylantenheim hört der Ich-Erzähler zum ersten Mal das Wort "Wandern". Er weiß nicht, was damit gemeint ist; kein Iraker mache einen Spaziergang durch einen Wald oder steige auf Berge. Man habe grundsätzlich keinen positiven Bezug zum Wald, der in seiner Heimat aus Dattel-, Oliven-, Granatapfel- und Zitronenbäumen bestehe, gehe höchstens dorthin, um Bäume zu pflegen und Früchte zu pflücken. Verwundert fragt er sich, wie die Schweizer auf die Idee kommen, "in irgendeinem Wald herumzulaufen?"
Dieser schön beobachtete "Cultural Gap" bietet dem Ich-Erzähler einen Einstieg, um seine Fremdheitsgefühle anschaulich zu machen, von denen er während seines Asylverfahrens erfüllt ist. In der Schweiz ist ihm alles fremd, nicht nur die Sprache, auch die Sitten und Gebräuche des bergigen und so ungewöhnlich grünen Landes.
Über den Zaun der Fremde springen
Doch er ist entschlossen ein neues Zuhause zu finden, er will "über den Zaun der Fremde springen", und so beschließt er, nicht nur auf eigene Faust Deutsch zu lernen, sondern zieht sich auch die Turnschuhe an und beginnt durch seine Umgebung zu wandern.
Fliehen musste er wegen eines regimekritischen Theaterstücks. Zuvor hatte er in Bagdad Literatur studiert und seine Doktorarbeit vorbereitet. Nun ist er voller Unruhe, erfüllt vor allem von der Sorge um seinen jüngeren Bruder Ali, der weiter in Bagdad studiert, wo zu dieser Zeit (2003 bis 2006) ein erbitterter Bürgerkrieg jeden Tag die Existenz jedes Menschen gefährdet.
Auch Ali möchte das Land verlassen, Usama soll ihm helfen, ihm Geld schicken, damit er die Reise bezahlen kann. Doch woher soll Usama zweitausend Dollar bekommen? Sein Job als Pizzaflyer-Verteiler bringt ihm nicht einmal zum eigenen Leben genug ein, zumal ihn sein Arbeitgeber öfter um seinen Lohn prellt.
Dass ihm die Flucht gelang, erfüllt Usama nicht mit Genugtuung, sondern bereitet ihm Schuldgefühle, die er nun unterwegs in der freien Natur versucht loszuwerden, indem er sich mit lauter Stimme an die Bäume wendet – und tatsächlich verschafft ihm das Trost und Erleichterung. Die Bäume geben ihm Echo und helfen ihm, die Verzweiflung zu überwinden, die ihn oft erfüllt.
In der Fremde selbst eine Heimat schaffen
Shahmani, der auf dem diesjährigen Internationalen Literaturfestival in Berlin eine begeisternde Lesung bot, betonte auf dem Podium, wie wichtig es ihm war nach seiner Flucht "anzukommen" und sich in der Fremde "selbst eine Heimat zu schaffen".
Ohne das Wort Entschleunigung zu gebrauchen, wies er auf den positiven Effekt der Natur hin, der ihm bis heute helfe: Wenn er die Bäume betrachte, seien alle Ablenkungen, Sorgen und Krisen ausgeblendet und er sei "nahe bei sich".
Darum habe sich ihm auch der Heimatbegriff erweitert: Im Arabischen sei "Heimat" ein relativ neues Wort und bedeute so viel wie "mein Zuhause, der Ort, wo ich lebe". Für ihn hingegen habe sich der Begriff vom Ort gelöst und sich in die Sprache begeben, so dass sein Zuhause heute eigentlich die Sprache sei, egal, ob er Arabisch oder Deutsch spreche oder schreibe.
Usama Al Shahmani, der über die Gruppe 47 geforscht hat und Schleiermacher und Habermas ins Arabische übersetzt hat, ist so einerseits ein arabischer, andererseits ein deutscher Schriftsteller, und es erfüllt ihn mit Stolz, dass er in seiner Wahlheimat Schweiz als "Frauenfelder Schriftsteller" bezeichnet wird.
Als Ali in Bagdad verschwindet, beginnt die Familie, die im Süden des Iraks wohnt, eine aufwendige und teilweise kostspielige Suche nach ihm.
Jede kleinste Spur wird verfolgt, und die Mutter drängt darauf auch dubiosen Leuten zu vertrauen, die mit Versprechungen locken und große Geldsummen fordern, ohne für irgendeine Sicherheit zu bürgen.
Der Glaube an die kommende Freiheit
Dieser Zustand lässt Shahmani in seinem sicheren Exil schier verzweifeln, er denkt pausenlos an Ali, macht sich Vorwürfe, die Familie im Stich gelassen zu haben und erinnert sich an die Zeit des Zweiten Golfkriegs, als er selbst von Soldaten und Milizen drangsaliert und geschlagen wurde und nur knapp der Verschleppung entging.
In diesen Passagen entwickelt der Roman ein großes Spannungspotenzial und der Gegensatz zwischen der ruhigen Schweizer Bergwelt und der chaotischen, von Gewalt und Willkür beherrschten Situation in Bagdad, vor allem nach Saddams Sturz, jener Zeit, als Ali verschwindet, macht den kleinen Roman zu einer packenden Lektüre.
An seinem Bruder bewundert Usama dessen unbändigen Glauben an die kommende Freiheit. Dieser Glaube, den Ali zuletzt mit seinem Leben bezahlen muss, versucht Shahmani heute für den Irak aufrecht zu erhalten. Unter heutigen Bedingungen sei das Land "eine reine Diktatur", in der staatliche Institutionen fehlen und das Chaos herrsche, so Shahmani auf dem Literaturfestival. Doch die Hoffnung ruhe auf den veränderten Kommunikationsbedingungen, die für die junge Generation eine Chance biete sich zu Wort zu melden.
Shahmani selbst, der den Irak immer wieder besucht, plant derzeit ein übergreifendes Schreibworkshop-Projekt, zu dem er viele befreundete AutorInnen auf der ganzen Welt zur Mitarbeit einlädt. "Eine verrückte Idee", meint er selbst etwas tiefstapelnd, "genau wie das Wandern."
Volker Kaminski
© Qantara.de 2019
Usama Al Shahmani: "In der Fremde sprechen die Bäume arabisch", Limmat Verlag, Zürich 2018, 192 Seiten, ISBN 9783857918599