Verzerrte Wahrnehmung
Der Medienblick auf Indonesien kann nicht nur als Beispiel dafür gelten, wie sehr unsere Wahrnehmung durch vorschnelle Einordnung des Fremden in bereits bekannte, meist recht grob polarisierende Kategorien verzerrt wird, sondern auch für die Macht projektiver Phantasien, die unversehens als Tatsachen durchgehen – bestätigen sie doch stereotype Vorannahmen und klingen daher so realistisch, dass selbst die Redaktionen großer überregionaler Zeitungen oft nicht stutzig werden.
Nach dem Sturz des Diktators Suharto im Jahr 1998 gewannen in dem südostasiatischen Inselreich, in dem mehr Muslime als in der gesamten arabischen Welt leben, im Zuge der Demokratisierung auch zuvor unterdrückte islamistische Bewegungen wieder an Raum. Zeitgleich war auf der Suche nach einer modernen, global ausgerichteten, aber doch eigenen Identität eine vermehrte Hinwendung zur Religion zu beobachten. Viele zuvor kaum praktizierende Muslime gerade der aufstrebenden Mittelschicht begannen den Islam neu für sich zu entdecken. Das vorher in Indonesien kaum verbreitete Kopftuch wurde zum sichtbarsten Merkmal dieser neuen, bewusst muslimischen Identität.
Kehrseite der Frömmigkeitsbegeisterung ist der von vielen schweigend oder aktiv mitgetragene Rechtsruck der Gesellschaft. Der soziale Druck, sich in Kleidung und Verhalten anzupassen, ist gestiegen, Minderheiten sehen sich zunehmend diskriminiert und verfolgt, die Gesellschaft polarisiert sich entlang identitärer Kollektivgruppen, und religiösen Hardlinern ist es gelungen, mehr und mehr Themen öffentlicher Debatten zu bestimmen.
Der eindimensionale Blick
Über all das wird zu Recht viel, aber leider oft auch einseitig berichtet. So liest man selten von progressiv-linken muslimischen Graswurzelorganisationen oder der lebendigen Diskussionskultur im studentischen Milieu oft traditionalistischer Muslime, die keinen Widerspruch zwischen den fünf täglichen Gebeten, Kopftuch und der Lektüre von Habermas oder auch Lacan sehen.
Wie irreführend die Berichterstattung oft ist, zeigt beispielhaft das Anti-Pornographiegesetz von 2008, das mit seinem Verbot von "pornographischem Verhalten", zu dem allzu knappe und enganliegende weibliche Kleidung zählt, große Aufmerksamkeit erregte und auch heute noch gerne zitiert wird.
Der Leser ohne Indonesienerfahrung meint dann zu wissen, dass kurze Kleidung für Frauen in Indonesien gesetzlich verboten ist – denn natürlich versteht er "Gesetz" als eine staatliche Anordnung, die wie bei uns flächendeckend durchgesetzt wird.
Doch 11 Jahre nach der Verabschiedung des Anti-Pornographiegesetzes finden auf unzähligen Bühnen Javas weiterhin offiziell genehmigte, öffentliche Aufführungen des beliebten Musikstils dangdut koplo statt, bei denen die Sängerinnen im Minirock ihre Hüften in einschlägigen Bewegungen über dem Publikum kreisen lassen (man schaue auf YouTube mal nach den Sängerinnen Sintya Riske oder Desy Tata).
Man kann nicht vom Anti-Pornographiegesetz und Ähnlichem schreiben, ohne Phänomene wie dangdut koplo zu berücksichtigen, will man ausgewogen berichten und ein Verständnis für die lokale sozio-kulturelle Komplexität dieses riesigen multiethnischen Landes vermitteln.
Schreckgespenst Scharia
Doch darum scheint es immer weniger zu gehen, zu verlockend ist das sich anbietende simple Erzählschema: vorher tolerant, moderat, vermeintlicher Beweis für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam, aber nun zeigt der Islam sein wahres Gesicht und alles wird ganz schrecklich, Stichwort Scharia.
Dieses Schema bietet eine vorschnelle weitere Bestätigung der eigenen Weltsicht an, auch wenn man von den höchst widersprüchlichen Dynamiken in der indonesischen Gesellschaft und dem, was die Menschen in ihren sehr unterschiedlichen Lebenswelten bewegt, oft nur wenig erfahren hat.
Umso leichter entgleiten einem die Fakten. Im April dieses Jahres, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, erschien in der ZEIT ein langer Artikel über Indonesien. Ganz am Schluss war zu lesen:
In Aceh werden also Ehebrecher gesteinigt und Dieben die Hand abgehackt? Muss wohl so sein, da dort ja "die Scharia" gilt. Dass solch eine Ungeheuerlichkeit noch nicht einmal die Redaktion stutzig werden ließ? In Aceh gilt für bestimmte moralische Delikte die Prügelstrafe; Steinigungen und Handamputationen gibt es nicht und wird es in naher Zukunft wohl auch nicht geben. Die Einführung von Scharia-Gesetzen in Aceh ist eine schreckliche und besorgniserregende Entwicklung, aber bei aller Empörung sollte man bei den Tatsachen bleiben. Doch bei Islam scheint inzwischen zu gelten: je schrecklicher, umso wahrer muss es sein.
Mediale Einordnung der Studentenproteste
Seit Ende September kommt es in Indonesiens Städten zu Massenprotesten von Studenten. Die internationale und deutsche Presse wusste meist schnell, worum es geht, nämlich um Islamismus und Sex: "Ärger über 'Kein Sex vor Ehe'-Plan" (Tagesschau.de), "Aufstand gegen die Tugendwächter" (Süddeutsche Zeitung), "Studenten revoltieren gegen den 'Bali Sex Ban'" (Spiegel Online).
Spiegel Online informierte, dass "die oft drakonischen Strafen der Scharia bald landesweit in der Justiz verankert werden könnten". Da denkt der entsetzte Leser natürlich gleich an den IS – und an Aceh, wo gesteinigt wird, wie er bereits aus der ZEIT weiß.
Auch für die FAZ sah es bis zu den angeblich anti-islamistischen Protesten aus, als würde in Indonesien "endgültig der Islamismus triumphieren" – also Acehs Scharia-Gesetze, gar Steinigungen in ganz Indonesien? Weit gefehlt, aber warum sich um einen differenzierten Blick auf Fakten kümmern, wenn die Beschwörung apokalyptischer Dramatik so viel befriedigender ist für Wahrnehmungsgewohnheiten, die zu simplen Schwarz-Weiß-Extremen tendieren?
Es ist erstaunlich, dass Korrespondenten vor Ort oder in der Region oft so wenig mitbekommen, worum es den Menschen auf der Straße wirklich geht. Die Studenten demonstrieren vor allem gegen eine Entmachtung der in der Bevölkerung außerordentlich großes Vertrauen genießenden Antikorruptionsbehörde, aber auch gegen repressive Paragraphen des geplanten neuen Strafgesetzbuches, zu denen unter anderem der Paragraph zu außerehelichem Sex gehört, gegen die verheerenden Waldbrände auf Sumatra und Borneo, gegen die Militarisierung in Papua, die Verfolgung von Aktivisten und gegen vieles mehr.
Dichotomisches Weltbild
Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung, für die sonst die Nachrichten aus dem muslimischen Indonesien gar nicht alarmistisch genug sein können, nun zu wissen meinte: "Indonesiens Bevölkerung wehrt sich massiv gegen die staatliche Durchsetzung des Islamismus". Damit lag sie vollkommen daneben, denn gegen "Islamismus" oder "Scharia" gehen die Studenten nicht auf die Straße (und um eine "staatliche Durchsetzung des Islamismus" geht es übrigens auch nicht).
Diese verzerrte, oft faktisch falsche Berichterstattung macht vor allem eines deutlich: Ein Blick auf muslimische Länder, der reflexhaft alles in ein Wahrnehmungsschema zwingt, das nur noch einen Kampf zwischen "Säkularen" (die "wie wir" sind) und "Islamisten" kennt, wird für das Verstehen lokaler gesellschaftlicher Prozesse schnell blind und sieht nur noch das, was seinen Befürchtungen oder Hoffnungen entspricht.
So auch nun in Indonesien: Es geht bei den Protesten nicht um (vom Westen ersehnten) Widerstand gegen Islamismus, sondern um einen quer durch alle ideologischen Lager geteilten massiven Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und ihre korrupten Vertreter.
Auch in muslimisch geprägten Ländern geht es nicht immer nur um Islam, es gibt noch ganz andere Probleme, die den Menschen manchmal wichtiger sind, auch wenn sich westliche Medien das anscheinend kaum vorstellen können.
Bettina David
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