Melodram ohne Tränen
Der Titel des Films, "Al-Mahkour Ma Ki Bakish / The Damned Don't Cry“ (2022), ist eine fast wörtliche Übernahme des Titels von "The Damned Don't Cry“, einem amerikanischen Film aus dem Jahr 1950, aber ansonsten bleibt die Verbindung zwischen den beiden Filmen vage und vielleicht sogar widersprüchlich.
Im amerikanischen Original geht es um eine texanische Hausfrau (gespielt von Joan Crawford) aus dem Kleinstadtmilieu, die nach dem Tod ihres Sohnes beschließt, ihre unglückliche Ehe zu verlassen. Sie setzt auf ihre Schönheit und taucht in die Welt des Reichtums und des organisierten Verbrechens ein.
Boulifas Film hingegen spielt in den marginalisierten Stadtvierteln von Casablanca und Tanger und nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Auch hier ist der Ausgangspunkt eine Mutter-Sohn-Beziehung, die jedoch anders als im amerikanischen Film mit dem frühen Tod keine dramatische Veränderung der Moralvorstellungen und des Lebensstils erfährt.
Vielmehr sehen wir eine quasi-erotische Beziehung und einen ödipalen Konflikt zwischen dem Wunsch nach Loslassen und dem gleichzeitigen Festhalten, was die die melodramatischen Ausbrüche der Protagonistin erklärt: Fatimah Zahraa ist eine Sexarbeiterin im mittleren Alter. Sie scheitert zunehmend darin, Männer zu verführen, und nachdem sie von einem ihrer potenziellen Kunden geschlagen und ausgeraubt wird, beginnt sie mit ihrem Sohn Selim von Stadt zu Stadt zu ziehen, wobei sich beide ein Bett teilen.
Selim sieht sich in der Pflicht, seine Mutter als Alleinverdienerin zu ersetzen. Dabei entdeckt er schnell, dass auch er seinen Körper auf dem homosexuellen Markt an westliche Kunden verkaufen kann. Die fragile Grenze zwischen Arbeit und Verkauf des eigenen Körpers verschwimmt in der harten Realität am Rande der Gesellschaft. Seine Mutter Fatima hingegen versucht, sich neu zu erfinden und sich den konservativen Konventionen der Gesellschaft anzupassen, gegen die sie in ihrer Jugend rebellierte. Schließlich findet sie ihre Rolle als zweite Frau eines religiösen Mannes.
Boulifa zeigt eine Vorliebe für Zitate und Anspielungen auf Werke des Weltkinos. Neben dem Hollywood-Titel, der in den marokkanischen Dialekt übersetzt wurde, ist der Film von einem anderen, bekannteren Werk inspiriert: "Mama Roma“ (1962) des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini. Der Film erzählt ebenfalls die Geschichte einer Mutter, die ihren Job als Prostituierte aufgibt und einen Neuanfang wagt. Sie will ihrem halbwüchsigen Sohn eine bessere Zukunft ermöglichen, indem sie ihm einen Job als Kellner besorgt.
In Pasolinis Werk ist die Mutter schließlich gezwungen, sich erneut zu prostituieren, und ihr Sohn stirbt im Gefängnis. Mit diesem tragischen Ende zeigt Pasolini, dass es fast unmöglich ist, dem Zusammenhang von Armut und einem aus gesellschaftlicher Sicht unmoralischen Leben zu entkommen.
Boulifas Film ist jedoch kein marokkanisches Remake des italienischen Vorgängers. Vielmehr recycelt der Film im Stile des Metakinos Skripte aus verschiedenen Quellen, indem er direkt oder indirekt auf sie verweist und mit Überschneidungen und Kontrasten spielt bzw. diese neu erzeugt.
Bei aller Ähnlichkeit zwischen den Filmen von Boulifa und Pasolini, insbesondere in Bezug auf die bedrückende Realität eines Lebens am Rande der Gesellschaft, präsentiert Boulifa eine moderne Neuinterpretation, die den Kontrast zwischen lokalen und globalisierten Lebenswelten in den Mittelpunkt stellt.
Da ist zum Beispiel die sexuelle Beziehung zwischen Selim und seinem französischen Arbeitgeber Sebastian, die man als postkoloniale Metapher für die Ausbeutungsbeziehungen zwischen Nord und Süd lesen und die als umgekehrte Rache verstanden werden kann. Ungewöhnlich ist, dass diese Beziehung selbst nicht verurteilt wird, sondern eine emotionsgeladene und erotische Intimität spiegelt. In seiner rauen, queeren Ästhetik tappt er weder in die Falle der Moralisierung, noch kapituliert er vor der Versuchung, diese Beziehung zu feiern.
"The damned don’t cry“ kommt ohne Tränen aus und widersetzt sich damit den üblichen Stereotypen des Problemfilms, obwohl mit Themen wie Vergewaltigung, Prostitution, Armut, Kinder unbekannter Herkunft, Homosexualität und religiöser Prüderie alle anderen Zutaten dieses Genres vorhanden sind, vielleicht sogar im Übermaß.
Der Film hinterfragt die Art und Weise, wie sich die Marginalisierten gegeneinander auflehnen, und thematisiert das paradoxe Verhältnis von Zuneigung und Brutalität im Kontext dieser Marginalisierung, wie sich die Protagonisten in ein und derselben Beziehung für den anderen aufopfern und ihn gleichzeitig verletzen.
© Qantara.de 2023
Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk