Werte und Gewalt im Prozess der Globalisierung

Zum vierten Mal seit 2001 trafen sich Akademiker, Theologen, Journalisten und Politiker aus Ägypten und Deutschland. Im Zentrum der Tagung stand das Thema Globalisierung und Nahostkonflikt.

Von Peter Philipp

Für die diesjährige Tagung, die in Ain el-Sukhneh an der ägyptischen Rotmeerküste stattfand, hatten sich die Veranstalter – die Evangelische Akademie Loccum und die "Koptisch-Evangelische Organisation für soziale Dienste" (CEOSS) - mit dem Diskussionsgegenstand Werte und Gewalt im Prozess der Globalisierung ein besonders schwieriges Thema vorgenommen, wie sich sehr rasch erweisen sollte.

Zu Beginn der Tagung hatte der ägyptische Rechtsprofessor Mohamed Nour Farahat Fragen aufgeworfen, die für einen guten Teil des Seminars die Richtung bestimmen sollten: Was ist Gewalt? Kann man Gewalt in verschiedene Kategorien einteilen? Muss man nicht zwischen Terrorismus und Widerstand unterscheiden?

Gewaltdefinition und Nahostkonflikt

Fragen, die sich nicht - wie die der deutschen Konferenzteilnehmer - auf den Zusammenhang von Religion und Terrorismus konzentrierten, sondern die ihren Ursprung in der tiefen Unzufriedenheit und Frustration der arabisch-muslimischen Welt haben über die politischen Entwicklungen, bei denen der Westen im Zuge der Globalisierung den Orient ignoriere, unterdrücke und misshandle.

So meinte Farahat, es sei kein Zufall, dass der Westen das internationale Völkerrecht gegenüber der muslimischen und arabischen Welt – etwa durch Präventivkriege – unterminiere und dass Armeen der Großmächte in der Region eingreifen könnten.

Natürlich spielte er damit auf den Irak- und zuvor den Afghanistankrieg an. Hinzu kam aber gleichzeitig auch die Kritik am Westen, im israelisch-palästinensischen Konflikt einseitig Partei zu ergreifen.

Das Palästina-Problem war aus der Diskussion nicht mehr zu isolieren, und es mag manche deutsche Teilnehmer überrascht haben, mit welcher Vehemenz ihre ägyptischen Dialogpartner sich in diesem Punkt auf radikale und uneinsichtige Positionen zurückzogen. Im Vordergrund die Unterstellung: Der Westen sei in seiner Politik und in seinen Medien einseitig pro-israelisch.

Dialog - gegenseitige Wertschätzung und Toleranz

Die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, zeigte sich anfangs noch zuversichtlich, dass man in einem Dialog "wechselseitig voneinander" lernen könne. Nicht einer habe mehr zu bieten als der andere, sondern man sei aufeinander angewiesen und brauche die Ansichten und Erfahrungen der anderen Seite. Immer wieder sei ihr in der arabischen Welt vorgehalten worden, dass der Westen sich überheblich zeige und die arabisch-muslimische Kultur nicht wertschätze, So Süssmuth.

Mindestens ebenso wichtig aber sei es – gerade in Europa mit seiner mittlerweile auf 20 Millionen angewachsenen muslimischen Minderheit – dass man einander besser kennen lernt. Genau dies aber sei bisher stark vernachlässigt worden. Man habe, insbesondere in Deutschland nebeneinander gelebt und das für Toleranz gehalten, so Süssmuth:

"Wir haben wenig miteinander gelebt und voneinander in Erfahrung gebracht. Damit fangen wir jetzt erst an. Dabei möchte ich Ihnen aber auch sagen, dass wir in Deutschland durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts vielleicht nicht genug gelernt, aber gelernt haben. Und was ist es, das wir dabei gelernt haben?

Erstens: Dass mit den Mitteln des Krieges, mit den Mitteln der Gewalt, mitunter Gewalt zu stoppen ist, aber die Probleme nicht zu lösen sind. Die Probleme sind nur politisch zu lösen, nicht militärisch. Das zweite, was wir gelernt haben: Wie tief ein Volk verstrickt werden kann, sich auch verführen lassen kann in dunkelste Barbarei, mit unendlichen Massenmorden, mit der Vernichtung der europäischen Juden, mit Vernichtung von Kulturen, und dass es großer Anstrengung bedurfte, dass wir da wieder herauskamen."

Hierin liege auch der Hauptgrund dafür, dass die deutschen Teilnehmer nicht nach Ägypten gekommen seien, um der Gegenseite etwas "von außen aufzuerlegen", sondern es gemeinsam in Erfahrung zu bringen. In Deutschland wisse man vielleicht manchmal die eigene Freiheit nicht mehr richtig zu schätzen, aber Vorrang müsse das Recht vor der Willkür haben, so Süssmuth.

Darauf hätte man sich dann auch einigen können, wenn da nicht gleich wieder das leidige Thema "Palästina-Konflikt" gewesen wäre: Freiheit und Recht müssten doch auch für die Palästinenser gelten, wandten ägyptische Konferenzteilnehmer ein. Sie warfen dem Westen erneut vor, seine Regeln nur gegenüber der muslimischen Welt durchzusetzen, nicht aber gegenüber Israel.

Der deutsche Botschafter in Kairo, Jörg Kobler, versuchte, einen gemeinsamen Weg aufzuzeigen: Wenn es zur Frage des Terrorismus komme, dann werde dieser im Westen nun mal als Angriff auf die freiheitliche Gesellschaft empfunden und man delegiere deswegen dem Staat die Macht, diese Gesellschaft vor solch einer Anfeindung und Bedrohung zu schützen.

Hierbei riskiere man freilich auch, dass Freiheiten eingeschränkt werden, zu deren Schutz der Kampf geführt werde und man übersehe auch allzu leicht das Gebot der Toleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden. Wobei "Toleranz" allerdings auch sehr unterschiedlich interpretiert werde. Nämlich keineswegs immer als Gleichbehandlung aus Überzeugung, sondern durchaus auch als herablassende – und damit arrogante – Güte des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren.

Globalisierung unterschätzt und verschlafen

Auch im Bereich der Globalisierung habe man großen Nachholbedarf, so Kobler: "Welche Rolle spielte hier bei uns im Westen, aber auch hier in den arabischen Staaten die Globalisierung? Hier vertrete ich schon ein bisschen die Ansicht und die Theorie, dass wir im Verhältnis des Dialoges der Kulturen oder 'wie gehen wir mit anderen Kulturen um?', das Faktum Globalisierung unterschätzt haben. Oder – aus unserer westlichen Warte – ich würde sogar sagen grandios verschlafen haben."

In Anlehnung an den ehemaligen Ost-West-Konflikt habe man im Westen zur Lage geglaubt, es würde reichen, wenn die Menschen in der muslimisch-arabischen Welt doch nur die richtigen Informationen bekommen, dann würden sie sich schon selbst für das bessere Gesellschaftssystem entscheiden.

Die arabische Welt habe zwar inzwischen die Möglichkeit, per Satellit mehr als ein Dutzend arabischer Fernsehkanäle zu sehen, diese vermittelten aber auch nicht das Bild, das der Westen gerne vermittelt hätten.

Viele Medien zeigten Blutvergießen und Gewalt und trügen damit eher noch dazu bei, anti-westliche Klischees in der arabischen Welt zu verstärken. Und es sei fraglich, ob der Westen den Vorsprung der arabischen Satellitensender noch aufholen könne. Was Kobler allerdings unausgesprochen ließ: Die auf diesen Sendern gezeigte Gewalt entspricht nun einmal dem Alltag in weiten Gegenden der arabischen Welt.

Der Botschafter, der vor Jahren der erste deutsche Vertreter bei den Palästinensern war, warnte aber auch vor allzu großem Eifer, Terrorismus klar definieren zu wollen: "Letztlich kann die Frage, wann Gewalt legitim und illegitim ist, nicht getrennt werden von der politischen Bewertung. Und ich finde, da greifen alle Definitionen zu kurz. Ich würde von meiner Warte aus sagen: Terrorismus ist niemals legitim, denn das Wort "Terrorismus" schließt ja schon diese negative Komponente ein."

Mc Donalds und aggressive Marktwirtschaft

Vor dem Wirrwarr der Definitionen und eigenen Betrachtungsweisen warnte Prof. Eglal Amin auf äußerst unkonventionelle Weise: Der Wirtschaftswissenschaftler meinte ironisch, die Gewalt in der Globalisierung könne gar nicht allein mit dem Terrorismus oder westlichem Hochmut definiert werden, sie beginne im Grunde schon bei McDonalds und der aggressiven Marktwirtschaft, mit der der Westen sich auch die arabische und muslimische Welt untertan mache.

Wille und Bereitschaft zur Selbstkritik, das war einer der Ratschläge, die die Konferenz ihren Teilnehmern mit auf den Weg gab. Vielleicht nicht viel, aber doch genug, um das Treffen als gelungen zu bezeichnen.

Für die bekannte Menschenrechtlerin und leitende Redakteurin der Zeitung "Al Ahram", Amina Shafiq, steht jedenfalls fest, dass der Sinn eines Dialogs nicht darin besteht, immer eine einheitliche Ansicht zu erreichen.

Aber der Dialog sei in jedem Fall sinnvoll, auf der eigenen Seite Vorurteile abzubauen und das Blickfeld zu erweitern: "Wir können nicht immer nur mit einer Ansicht leben", so Shafiq, "dass nämlich der Westen gegen uns ist… Nein, dieser Westen ist nicht ein Westen. Und selbst in einem Land gibt es nicht immer nur die Meinung der Regierung. Es gibt die Meinung vieler Menschen, vieler Organisationen. Und diese Art von Verständigung wird deswegen sicher in der Zukunft zu besseren Beziehungen führen."

Peter Philipp

© Qantara.de 2005