Miliz von Netanjahus Gnaden

Ein Mann mit Baseballcap trägt einen Sack Mehl und küsst ihn.
In Gaza ist Mehl zum Schatz geworden. Nahrungsmittel erreichen Gaza-Stadt, 10. Juni 2025. (Foto: Picture Alliance / NurPhoto | M. Fathi)

Eine bewaffnete Gruppe in Gaza sorgt für Schlagzeilen. Die von Abu Shabab geführten Militanten plündern Hilfsgüter und sollen auf Hungernde geschossen haben. Israels Regierung sieht in der Miliz offenbar eine politisch unbedenkliche Konkurrenz zur Hamas.

Von Karim El-Gawhary

Hilfsorganisationen werfen ihr vor, für Plünderungen von Hilfslieferungen im Gazastreifen verantwortlich zu sein. Palästinensische Augenzeug:innen machen sie mitverantwortlich für Schüsse auf Hungernde. Für Israel sind sie ein Experiment, wie eine Alternative zur Hamas aufgebaut werden kann. Und die Hamas bezeichnet sie als Kollaborateure der Besatzungsmacht.

Eine von Israel unterstützte neue Palästinenser-Miliz ist in die Schlagzeilen geraten. Ihre Mitglieder nennen sich selbst „Volkskräfte“, sind aber auch bekannt unter dem Namen ihres Anführers: die Shabab-Bande. Rein militärisch eher unbedeutend, wird diese Miliz auf 300 Mann geschätzt. Sie operiert ausschließlich in Gebieten im Süden des Gazastreifens, die direkt von der israelischen Armee kontrolliert werden. Angeführt wird sie von Yasser Abu Shabab, einem Mann in den Dreißigern, der einer prominenten Beduinen-Familie angehört.

Unter der Hamas-Herrschaft soll Abu Shabab als Drogendealer im Gefängnis gesessen haben, bevor er bei der israelischen Offensive nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 freikam. Die Truppe, die er um sich scharte – viele Mitglieder hatten eine ähnliche Biografie wie er – machte sich in den letzten Monaten einen Namen als Plünderer von Hilfslieferungen.

Auch beim neuen Verteilungssystem für Nahrungsmittel der US-israelischen „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF) spielt die Shabab-Miliz eine Rolle. In den vergangenen Tagen tauchte sie nun immer wieder rund um die neuen Ausgabestellen der GHF auf. Palästinensische Augenzeug:innen bezichtigen sie, Schüsse auf Menschen abgefeuert zu haben, die dort anstanden. 

Am Montag berichteten Menschen in Gaza erstmals, dass neben der israelischen Armee auch bewaffnete Palästinenser auf sie geschossen hätten, die mit der Armee zusammengearbeitet hätten. Ein Augenzeuge berichtete gegenüber dem arabischen Dienst der BBC, er habe bei einer der GHF-Ausgabestellen in Tel Sultan in Rafah eine Gruppe in Zivil mit vermummten Gesichtern gesehen. 

„Erst dachten wir, das wären ein paar palästinensische Jugendliche, die gekommen sind, um bei der Ausgabe zu helfen. Aber dann begannen sie, auf uns zu schießen“, berichtete Hisham Saeed Salem. „Selbst auf jene, die es geschafft haben, eine Kiste mit Nahrungsmitteln zu ergattern, wurde geschossen. Wir wissen nicht, wer die Angreifer genau sind, aber sie haben uns alles weggenommen“, erzählt er. 

„Vorher hat immer die israelische Armee geschossen, aber nun sind wir geschockt über die Anwesenheit von Banden und Milizen“, erzählt auch Mohammed Sakout, ein anderer Augenzeuge.

Israelischer Ex-Minister: „völliger Wahnsinn“

Die Milizen scheinen auch Vorrang bei der Essenausgabe zu haben. Laut Muhammad Shadada, der für die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) die Lage in Gaza analysiert, werden „von der israelischen Armee und der GHF vor Sonnenaufgang zunächst Kollaborateure, Bandenmitglieder und Subcontractors vorgelassen, die sich die wertvollsten Dinge wie Speiseöl sichern, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen“.

Die Shabab-Bande ist auch dafür bekannt, Hilfslieferungen zu rauben. „Israel hat öffentlich behauptet, dass die UN- und NGO-Hilfe von der Hamas abgezweigt wird, aber das hält einer Überprüfung nicht stand“, sagte Jonathan Whittall, Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in den besetzten palästinensischen Gebieten, am 28. Mai. 

„Der eigentliche Diebstahl von Hilfe seit Kriegsbeginn wurde von kriminellen Banden unter Aufsicht israelischer Streitkräfte verübt, und sie durften in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom in Gaza operieren“, so Whittall.

Endgültig ins Rampenlicht geriet die Miliz am 5. Juni, als ihre Existenz erstmals öffentlich in Israel debattiert wurde. Ex-Verteidigungsminister Avigdor Liberman beschuldigte den israelischen Premier Benjamin Netanjahu im Fernsehen, „einer Gruppe von Kriminellen und Schwerverbrechern“ unter der Führung von Abu Shabab, der sogar eine Nähe zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) nachgesagt werde, Waffen zu geben. 

Liberman kritisierte, dass Netanjahu die Miliz ohne Zustimmung des Sicherheitskabinetts bewaffnet habe, und charakterisierte den Vorgang als „völligen Wahnsinn“. Daraufhin veröffentlichte Netanjahu ein Video, in dem er zugab, dass Israel auf Anraten von „Sicherheitsbeamten“ einige palästinensische Clans in Gaza „aktiviert“ habe. Er fragte: „Was ist daran schlimm? Es ist eine gute Sache und rettet das Leben unserer Soldaten.“ 

Ein nicht namentlich genannter israelischer Sicherheitsbeamter gab gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Ynet an, dass die Bewaffnung der Shabab-Miliz vom israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Beth „geplant und gesteuert“ sei – mit dem Ziel, die Verluste der eigenen Armee zu reduzieren und die Hamas durch die Förderung rivalisierender Kräfte systematisch zu untergraben. 

Der israelische Fernsehsender Channel 12 zitierte eine andere Sicherheitsquelle, laut der dies „erst der Anfang ist“. Die israelische Armee erwäge, dieses Experiment nach den „Erfolgen des Pilotprojekts in Rafah“ auf weitere Gebiete auszuweiten.

Hamas spricht von Verrat

Erstmals in Erscheinung getreten waren die Shabab-Milizen im Mai letzten Jahres, als die Verteilung der Hilfsgüter noch ausschließlich von der UNO geleitet wurde. Im vergangenen Dezember häuften sich dann die Meldungen, dass ein Großteil der Hilfslieferungen direkt hinter dem israelischen Grenzübergang von kriminellen Banden ausgeraubt wurden und die Hilfsgüter dann auf dem freien Markt in Gaza verkauft wurden. 

Die Washington Post zitierte im November 2024 aus einem internen UN-Memo, in dem es hieß, dass die kriminellen Banden direkt oder indirekt vom Wohlwollen der israelischen Armee profitierten und sogar von ihr beschützt würden. Dem Bericht zufolge gibt es sogar eine Art Militär-Lager der Banden, „in einem Gebiet mit eingeschränktem Zugang, kontrolliert und patrouilliert von der israelischen Armee“. 

Die israelische Armee stritt damals jegliches Wissen darüber ab. Wer genau hinter den Banden steckt, blieb nebulös. Aber auch schon damals wurden beduinische Familien des prominenten Tarabin-Stammes genannt, denen schon zuvor kriminelle Aktivitäten nachgesagt worden waren.

Nun hat das Ganze mit Yasser Abu Shabab einen Namen und ein Gesicht bekommen. Dessen Clan, der dem Tarabin-Stamm angehört, der sowohl in Gaza als auch im Norden der ägyptischen Sinai-Halbinsel zu Hause ist, hat sich inzwischen von ihm distanziert und fordert dessen Blut. „Wir bekräftigen, dass wir Yassers Rückkehr in die Familie nicht akzeptieren werden“, heißt es in einer Erklärung. „Wir haben keinen Einwand dagegen, dass ihn die Menschen in seinem Umfeld sofort liquidieren.“

Die Hamas bezeichnete Abu Shabab als Verräter: „Wir geloben vor Gott, weiterhin die Verstecke dieses Kriminellen und seiner Bande zu bekämpfen, egal welche Opfer wir bringen müssen.“ Yassers Bruder ist bereits von der Hamas getötet worden. Yasser selbst hat mindestens zwei Mordversuche überlebt. 

Innerhalb der Hamas existiert eine eigene Einheit namens „Sahm“ (Pfeil), deren Aufgabe es ist, als Kollaborateure gebrandmarkte Menschen zu exekutieren. Diese Woche kam es erstmals zu einem Schusswechsel zwischen der Shabab-Miliz und Sahm, bei dem die Miliz nach eigenen Aussagen einen Hinterhalt gelegt und sechs Sahm-Mitglieder getötet haben will.

Politisch harmlos

Die Shabab-Miliz selbst bestreitet, ein Werkzeug der israelischen Besatzung zu sein. In den sozialen Medien präsentiert sich Abu Shabab als „die Stimme des Volkes, das des Chaos, des Terrorismus und der Spaltung überdrüssig ist“. Gegenüber dem US-Fernsehsender CNN beschrieb Yasser Abu Shabab seine Miliz als „eine Gruppe von Bürgern“, die sich freiwillig gemeldet hätten, um humanitäre Hilfe vor Plünderungen und Korruption zu schützen.

Israel seinerseits bezweckt mit dem Aufbau der Miliz offenbar, dass diese langfristig als Mittler zwischen der Bevölkerung in Gaza und der israelischen Armee fungiert. Bislang jedoch ist ihr strategischer Wert gering; ihr Operationsgebiet in Südgaza und ihre Größe sind begrenzt. 

Es stellt sich aber weiterhin die Frage, wer langfristig die Verwaltung des Gaza­streifens von der Hamas übernehmen soll. Netanjahu will mit allen Mitteln verhindern, dass die Palästinensische Autonomiebehörde oder irgendeine andere politische Gruppierung eine Rolle in Gaza spielt.

Der große Vorteil von Milizen wie der Shabab-Bande für Netanjahu: Sie überleben offenbar nur mit israelischen Waffen und Gefälligkeiten und stellen keine politische Bedrohung dar, etwa indem sie eine Zweistaatenlösung und einen palästinensischen Staat fordern. Somit dienen sie lediglich als verlängerter Arm der israelischen Besatzung.

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