Mit Bildung gegen die intellektuelle Leere
Die Regale sind wacklig, die Bücher verstaubt und aus längst vergangenen Tagen: Kubakrise, Ölembargo oder die Weltmacht Sowjetunion. In Arabisch, Englisch und Französisch. Dazu etwas versteckt neben dem Eingang eine Reihe deutscher Liebesromane aus den 60er Jahren. Und natürlich darf Heinz G. Konsalik nicht fehlen: "Der Arzt von Stalingrad".
Geputzt hat in der Buchhandlung Sabha, (benannt nach der gleichnamigen libyschen Stadt im Süden der Sahara) schon lange keiner mehr. "In Revolutionszeiten macht das nichts", sagt Besitzer Mohammed Bachbachi. Er hat den Laden vor 20 Jahren eröffnet. "Ich wollte die Ignoranz des Regimes bekämpfen", erklärt der 74-Jährige, der rauchend vor seinem Geschäft auf dem Gehsteig sitzt.
Es ist früher Donnerstagabend. Der Beginn des Wochenendes. Am Freitag, dem muslimischen Gebetstags, wird nicht gearbeitet. Die Mizran-Straße ist voll von Menschen und Autos. Alles strömt ins Stadtzentrum zum Märtyrer-Platz (vormals Grüner Platz), der keine 300 Meter weit, gleich um die Ecke liegt. Bewaffnete Milizen sind dort keine mehr zu sehen, die in den Wochen nach dem Sieg über Gaddafi mit ihren Kalaschnikows wie wild in die Luft ballerten. Stattdessen kontrollieren heute Bewaffnete in Uniformen und mit Ausweisen die Taschen der Passanten.
Unbehelligt vom Geheimdienst
Unter dem Gaddafi-Regime konnte nicht jeder X-Beliebige eine Buchhandlung eröffnen. Aber als ehemaliger Offizier der libyschen Armee bekam Bachbachi eine Genehmigung. "Ich war bis 1979 beim Militär und der Geheimdienst dachte, ich sei einer von ihnen. Sie belästigten mich nicht", versichert der ältere Herr, der unaufhörlich schmunzelt, als hätte es 42 Jahre Gaddafi-Diktatur nicht gegeben.
Offiziell musste "Sabha" das Grüne Buch verkaufen. Ein von Gaddafi geschriebenes Werk, das der Diktator für bedeutender hielt, als das Kommunistische Manifest von Karl Marx und das Rote Buch von Mao Tse Tung zusammen.
Jeder Libyer musste es kennen. Es gab tägliche Lesungen im Staatsfernsehen, in den Schulen war es Bestandteil des Curriculums und an den Universitäten wurden Lehrstühle dazu eingerichtet. Das Grüne Buch war 1975 veröffentlicht worden. Zwei Jahre nach der von Gaddafi proklamierten "Kulturellen Revolution", in deren Rahmen man unliebsame Werke öffentlich verbrannte.
"Unter dem Ladentisch verkaufte ich andere Bücher", erzählt der Offizier als Buchhändler. "Ich wollte gegen Gaddafi kämpfen, nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit Bildung gegen die intellektuelle Leere." Das Geschäft zahlte sich finanziell nie wirklich aus, wie der 74-Jährige offen zugibt. "Die meisten Leute lasen nicht, hatten kein Geld für Bücher und ein kulturelles Leben existierte nicht."
Hoffen auf kulturelle Explosion
Bachbachi konnte vielen jungen Leuten helfen und "vor allen Dingen inspirieren", wie er betont. Er besorgte ihnen Bücher über Geschichte, Geographie und Medizin. Aber noch viel wichtiger waren aus dem Ausland eingeschmuggelte Werke: kritische Biografien über Gaddafi und Analysen seines Regimes.
"Natürlich erzählte ich ihnen, wie es früher war. Welchen Einfluss der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser hatte, über den Coup d'Etat Gaddafis vom 1. September 1969, der die Herrschaft König Idris I. in Libyen beendete und wie die Revolution vom 'großen Führer' gestohlen wurde."
Nachdem Diktator und Regime endlich weg sind, hofft Bachbachi auf eine kulturelle Explosion. Gaddafi hat den Geist von vielen Generationen unterdrückt. Mindestens zehn Jahre seien nötig, so der Buchhändler, um die kulturellen Defizite aufzuarbeiten. Kaum einer der jungen Libyer hat Fremdsprachenkenntnisse. Nur einige der älteren Generation spricht Englisch oder Italienisch, die zwei Sprachen der europäischen Kolonialmächte, die das Land besetzt hatten.
An den Universitäten existierte das Fach Anthropologie nicht, Soziologie oder Politik wurden nur mit dem Fokus auf Gaddafis Fibel gelehrt. Für das Grüne Buch war ein kompletter Studiengang eingerichtet.
In der Buchhandlung Sabha machen bis zum späten Abend laufend Besucher Halt. Freundlichkeiten werden ausgetauscht, manchmal ein Kaffee getrunken: Macchiato, Espresso mit Milchschaum. "Für mich keinen Kaffee", sagt Atja Dibani. "Ich will nur in Ruhe eine Zigarette rauchen." Er ist ein alter Weggefährte von Geschäftsinhaber Bachbachi. Beide waren zusammen auf der Militärakademie in Bengasi: Jahrgang 1937.
Die Schatten der Vergangenheit
Dibani wirkt nicht wie ein alter Mann. Er ist schlank, muskulös, mit breiten Schultern. In der Armee brachte er es zum Major und Artillerie-Ausbilder. Entsprechend ist sein Gehör nicht mehr das Beste. Dibanis Schicksal zeigt, wie sehr die Repression alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste und auch vor Angehörigen des Militärs keine Rücksicht nahm.
1970 wurde der Major aus der Armee entlassen. Mit anderen 200 älteren Offizieren, die man durch junge ersetzte. Zuerst arbeitete er vier Jahre als "attache de affairs" in der libyschen Botschaft in Malta, danach im Planungsministerium. Als er 1983 im Auftrag des Ministeriums in die damals noch existierende Tschechoslowakei reisen wollte, wurde er am Flughafen verhaftet. Seine beiden Kollegen mussten ohne ihn fliegen. Für Dibani begannen fünf Jahre des Horrors in Einzelhaft, ohne je die Sonne zu sehen.
Er wurde in ein Gefängnis des libyschen Geheimdienstes verschleppt. In eine Zelle im Keller ohne Fenster. "Die Toilette lag auf dem Gang", erinnert er sich und seine Augen werden feucht. "Die Wächter gaben uns jeden Tag nur eine einzige Minute für die Notdurft. Bevor sie uns rausführten, streuten sie Essen aus, um die Ratten anzulocken. Sie waren so groß und fett, dass sie nur einzeln durch das Loch der Toilette am Boden raus und ein schlüpfen konnten." Dem ehemaligen Major versagen die Worte. Er murmelt mehrfach "Oh Gott, Oh Gott" und kann dann die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Keine Anklage, nirgendwo
Eine formale Anklage gegen ihn habe es nie gegeben. Er sei auch nie verhört worden. Man habe ihm nur einen Stoß Papier hingelegt, "um aufzuschreiben, was ihm so in den Kopf kommt." Dibani schrieb außer den Daten eines kurzen Lebenslaufs nichts und vermied alles Persönliche. "Sonst hätten sie daraus noch ein schriftliches Geständnis gebastelt", sagt er mit tränenden Augen.
Nach 15 Monaten landet er in der Spezialeinrichtung des Soani-Gefängnisses der libyschen Hauptstadt. Seine Zelle ist gerade einen Quadratmeter groß. Er kann nur stehen. Es gibt kein Licht. Einmal pro Woche darf er den kleinen Käfig für 30 Minuten verlassen. Ein Sergeant sei gekommen und habe vor seiner Zelle Halt gemacht und gebrüllt: "Sie haben zuviel Lärm gemacht. Ich muss Sie bestrafen."
Nach militärischen Kommandos machte Dibani Gymnastik und marschierte den Gang auf und ab. "Für mich war das keine Bestrafung. Im Gegenteil, es war eine Wohltat, mich endlich bewegen zu können." Der Sergeant habe ihm einen Gefallen getan, fügt Dibani jetzt lachend hinzu.
Mitten in seine Erzählungen platzt Abdurazik Bilkeir in die Buchhandlung. Er klopft Dibani herzhaft auf die Schulter. "Das war mein Lehrer an der Militärakademie", klärt Bilkeir auf. "Der beste und feinste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Leider ist er mir ins Gefängnis gefolgt."
Bilkeir war ebenfalls ein Offizier in der libyschen Armee und wurde 1970 verhaftet. Die Anklage lautete: Verdacht auf Putschversuch. "Sie konnten es nicht beweisen, aber wir hatten daran gedacht", meint er amüsiert. "Das war der allererste Putschversuch gegen Gaddafi. Nur vier Monate, nachdem er im September 1969 die Macht ergriffen hatte." Bilkeir grinst breit und ist sichtlich stolz darauf.
18 Jahren musste er dafür im Gefängnis sitzen. Bis 1988, als er im Rahmen einer Amnestie frei kommt. Unter den Entlassenen ist auch sein geliebter Lehrer von der Militärakademie.
"Mit fünf Jahren Haft, hatte ich noch Glück", stellt Dibani rückblickend fest. "Mein Schicksal ist nichts im Vergleich zum Elend der vielen anderen tausenden von Libyern, die lebenslang hinter Gitter saßen, gefoltert und ermordet wurden."
"Sei nicht so trübselig", fällt ihm Belkeir ins Wort und klopft seinem alten Freund erneut auf die Schulter. "Es ist vorbei, dank unserer tapferen jungen Kämpfer. Komm, lass uns lieber einen Kaffee bestellen. Ich hab nicht viel Zeit."
Alfred Hackensberger
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de