Dialog als Mittel zum Zweck
Die türkische Regierung beschuldigt die sogenannte "Hizmet"-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu stecken, bei dem mehr als 290 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien. Eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bis heute schuldig geblieben.
Unstrittig ist aber, dass Anhänger der Gülen-Bewegung massiv im türkischen Staatsapparat vertreten waren und sie diese Positionen zu ihren Gunsten ausnutzten - allerdings geduldet von der Regierungspartei AKP, zumindest so lange, bis sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der in den USA lebende Fethullah Gülen überwarfen.
Nach dem Putschversuch erfasste eine beispiellose Säuberungskampagne die Türkei: Rund 100.000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen und 40.000 inhaftiert. Die meisten von ihnen waren mutmaßliche Mitglieder oder auch nur Sympathisanten der Gülen-Bewegung. Zehntausende mussten aus dem Land fliehen. Von den weltweit rund 800 Gülen-nahen Schulen in 150 Ländern mussten nicht nur in der Türkei viele schließen. Vor allem in muslimischen Staaten wie dem Kosovo und Malaysia wurden auf Druck der Türkei Bildungseinrichtungen des Netzwerkes geschlossen und türkische Lehrer ausgewiesen.
Erdoğan-Opfer als gutes Image
In Deutschland hingegen verfügt die Gülen-Bewegung immer noch über große Sympathien - in den Medien, in der Politik und selbst bei den großen Kirchen. Ihre Anhänger werden in erster Linie als Opfer Erdoğans angesehen und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit geschätzt. Dass es sich um bedingungslose Anhänger eines konservativen islamischen Geistlichen handelt, für den "erfolgreiches Dienen im Islam" nur möglich ist "durch eine Islamisierung des Lebens mit all seinen Institutionen" - wie es in Gülens Buch "Der Prophet als Befehlshaber" heißt -, scheint keine besondere Rolle zu spielen.
Für den Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, handelt es sich bloß um eine "zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung". Zwar zitiert die deutsche Botschaft Ankara in einem Bericht türkische Quellen, wonach sich "der konspirative Teil der Bewegung (...) durch strikte Hierarchien auszeichnet und in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter Kriminalität erinnert." Es ist aber unklar, ob sich die Bundesregierung diese Sichtweise zu eigen macht. Immerhin räumt sie auf eine parlamentarische Anfrage hin ein: "Die Struktur der Gülen-Bewegung ist nicht transparent."
Indifferenter Verfassungsschutz
Ähnlich indifferent verhält sich der Verfassungsschutz: Auf Anregung des rheinland-pfälzischen Innenministers Roger Lewentz (SPD) nahm sich schon 2014 eine Arbeitsgruppe mehrerer Verfassungsschutzbehörden der Bewegung an. Sie kam zu dem Ergebnis, "dass keine hinreichenden Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen". Gleichwohl wurde nach Auskunft des rheinland-pfälzischen Innenministeriums bei der Prüfung deutlich, dass in Gülens Schriften "Textpassagen zu finden sind, die kritisch zu hinterfragen sind, u.a. zur Glaubensfreiheit, zum Geltungsumfang der Religion im öffentlichen Leben und im Hinblick auf die Haltung gegenüber Atheisten".
Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg hatte im Juli 2014 einen umfangreichen Bericht mit kritischen Anmerkungen zu Gülen auf seiner Onlineseite veröffentlicht. Nach dem Putsch wurde die Publikation von der Seite genommen. Auf Nachfrage erklärte das Landesamt, der Bericht sei nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Dass ein politisch sensibler Bericht, aus dem mehrfach öffentlich zitiert wird, zwei Jahre lang online ist, ohne dass jemand in der Behörde diesen Fehler bemerkt, wirkt jedoch kaum glaubhaft.
Eine plausible Erklärung kommt hingegen aus den Reihen der baden-württembergischen CDU-Fraktion. Danach hatten türkische Regierungsstellen nach dem Putschversuch die deutsche Seite unter Verweis auf den kritischen Gülen-Bericht aufgefordert, gegen die Bewegung vorzugehen.
Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Ulla Jelpke, wirft der Bundesregierung vor, "schützend die Hand" über die Gülen-Bewegung zu halten - selbst über die Mitglieder, die in der Türkei mutmaßlich an Verbrechen beteiligt waren. Das Mitglied des Innenausschusses des Bundestages hat wiederholt kritische Anfragen zum Umgang mit der Bewegung gestellt. Auslieferungen an die Türkei lehnt Jelpke aber ab, da die Beschuldigten dort kein rechtsstaatliches Verfahren erwarte. "Aber man könnte ihnen hier den Prozess machen."
Gesucht: der "Imam der Luftwaffe"
Auch die Türkei behauptet, etliche Verantwortliche für den Putschversuch vom Sommer 2016 seien nach Deutschland geflohen. Mitte Juni veröffentlichten türkische Zeitungen die Adresse eines Wohnhauses in Berlin-Neukölln, in dem sich einer der mutmaßlichen Drahtzieher versteckt halte: Adil Öksüz, der als "Imam der Luftwaffe" im Auftrag der Bewegung Gülen-treue Offiziere befehligt haben soll. Aufnahmen zeigen ihn am Abend des Putsches auf einer Luftwaffenbasis bei Ankara. Die türkische Regierung fordert seine Auslieferung.
Offiziell erklärt die Bundesregierung, dass sie nicht wisse, ob sich Öksüz in Deutschland befinde. Man habe aber Ermittlungen eingeleitet. Ein Bewohner des Hauses sagte dagegen, einem Mann im Haus begegnet zu sein, der ihm stark ähnele. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau ist Öksüz inzwischen vom Berliner Staatsschutz in Sicherheit gebracht worden.
Die Gülen-Bewegung bestreitet jede Verwicklung in Gewaltverbrechen. Sie sei lediglich in den Bereichen Dialog und Bildung engagiert. Aber auch in Deutschland hat die Bewegung seit dem Putsch zahlreiche Unterstützer verloren. Drei der 30 Gülen-Schulen mussten schließen, weil vor allem türkischstämmige Eltern ihre Kinder abmeldeten. Auch rund die Hälfte der bundesweit 170 Gülen-Nachhilfeeinrichtungen mussten aufgegeben werden.
Doch langsam kehrt sich dieser Trend um. So konnte das Wilhelmstadt-Gymnasium in Berlin-Spandau seine Schülerzahlen wieder ausgleichen, wie der Vorsitzende des Trägervereins Tüdesb, Irfan Kumru, bestätigte. Er kündigte außerdem die Eröffnung mehrere Kindertagesstätten an: "Die werden viel nachgefragt."
Bildungsträger oder Sekte?
Die Einrichtungen profitieren auch von den mehreren tausend nach Deutschland geflohenen Glaubensbrüdern aus der Türkei, darunter ehemalige Beamte, Lehrer und Geschäftsleute. Allein im Jahr 2017 stellten rund 8.000 türkische Staatsbürger einen Asylantrag, in den ersten drei Monaten dieses Jahres knapp 2.000. Die Neuankömmlinge werden bei Gülen-nahen Vereinen wie der "Aktion für Flüchtlingshilfe" in Berlin betreut. Dort erhalten sie Rechtsberatung und Hilfe auf der Suche nach Sprachkursen, Jobs und Wohnungen. Die Asyl-Anerkennungsquote unter den Antragstellern ist nach Angaben der Bewegung hoch. In Berlin etwa liege sie bei rund 90 Prozent.
In einem Interview der ARD warnt ein ehemaliger Gülen-Funktionär die deutschen Behörden vor einem unkritischen Umgang mit der "Sekte" wie er die Gülen-Bewegung nennt. Sie verfüge über eine "geheime Parallel-Struktur"; der "Schein nach außen" entspreche nicht der Realität: "Nicht die Vereinsvorstände, sondern die Imame haben die Macht. Diese Imame kommen aus der Türkei und werden unter verschiedensten Vorwänden nach Deutschland gebracht. Als Journalisten oder Buchhalter. Sie sind für ca. drei Jahre da."
Mit dem Westen kompatibel?
Die Gülen-Bewegung will den Vorwürfen in Deutschland durch mehr Transparenz begegnen. Vor allem die "Stiftung Dialog und Bildung" mit ihrem Vorsitzenden Ercan Karakoyun bemüht sich seit dem Putsch unermüdlich darum, in deutschen Medien ein Bild der Gülen-Bewegung als demokratischem Gegenentwurf zu Erdoğans autoritärem Staatsverständnis zu verbreiten. Ihre religiösen Werte seien mit dem Westen kompatibel, findet Karakoyun: "Das sind beispielsweise die Vereinbarkeit von Religion und Moderne, von Religion und Demokratie, von einem Islamverständnis, das zeitgemäß ist."
Doch genau das wird von vielen Experten bezweifelt. Fethullah Gülen sei nie ein Reformtheologe gewesen, sagt Friedmann Eißler von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Der Dialog mit Nicht-Gläubigen sei nur ein Mittel zum Zweck: "Wir sollten die Gesamtsicht im Blick haben. Und die beinhaltet eine islamische Vision auch für die hiesige Gesellschaft im Westen." So räume Gülen in seinen Schriften Frauen zwar Rechte ein, die nicht beschnitten werden dürften. "Aber welche Rechte das sind, sagt er nicht."
Doch selbst die Kirchen in Deutschland haben keine Berührungsängste, wenn es um die Gülen- Bewegung geht: Für das in Berlin geplante "House of One", in dem die drei monotheistischen Religionen gemeinsam beten sollen, holte sich die Evangelische Kirche Gülen-Vertreter als Partner. Und der katholische Herder-Verlag veröffentlicht schon seit Jahren Bücher Fethullah Gülens und die seiner Anhänger. Der Verlag bestätigte, dass "der Autor den Absatz eines Teils der Auflage organisiert und garantiert". Will sagen: Gülen bezahlt, Herder druckt. Kein Wunder, dass Ercan Karakoyun sagt: "Deutschland ist dabei, zu unserem neuen Zentrum zu werden."
Gunnar Köhne
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