Das Dilemma der Islamisten

Nach ihrem Sieg bei den palästinensischen Parlamentswahlen bewegt sich die Hamas zwischen massivem außenpolitischen Druck und neuen innenpolitischen Herausforderungen. Helga Baumgarten informiert.

Von Helga Baumgarten

 

Hamas bei Abbas: Hamas-Chef Mahmoud Al-Zahar (links) bei Gesprächen zur Regierungsbildung mit Präsident Mahmoud Abbas
Innen- wie außenpolitische Gratwanderung für Palästinas Islamisten: Hamas-Chef Al-Zahar bei Gesprächen zur Regierungsbildung mit Präsident Abbas

​​Ein Wahlsieg, der einschlug wie der Blitz: 74 Hamas-Abgeordnete im neuen palästinensischen Legislativrat mit seinen 132 Parlamentariern, neben nur 45 Fatah-Vertretern. Die absolute Mehrheit also für eine politische Bewegung, die noch vor zehn Jahren jegliche Teilnahme an Wahlen abgelehnt hatte.

Die Entscheidung der Wähler scheint vor allem eine Entscheidung gegen all das zu sein, wofür in ihrer Wahrnehmung die Fatah und die palästinensische Autorität standen: Innenpolitisch Vetternwirtschaft, Korruption, Ineffizienz und wachsendes Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich, außenpolitisch ein Friedensprozess, der dies nur dem Namen nach war und der den Palästinensern schrittweise immer mehr Land weggenommen hat, während er gleichzeitig ihre Lebensbedingungen unter der Besatzung unerträglicher machte mit Mauerbau, Zerstückelung des Landes, Straßensperren sowie immer gewalttätigeren israelischen Siedlern, meist unterstützt von der israelischen Armee.

Für Ruhe und politische Stabilität

Wofür steht demgegenüber die Hamas und was erwarten deren Wähler von ihnen? In ihrer Mehrzahl wollen die Wähler von Hamas eine effiziente und korruptionsfreie palästinensische Verwaltung in der quasi-staatlichen Bürokratie, im Gesundheitswesen, im Erziehungssektor und in der Wirtschaft. Dies koppeln die meisten mit dem Wunsch, dass – abgesehen von den israelischen Siedlern und der Armee, die außerhalb ihres Einflussbereiches stehen – auf den palästinensischen Straßen wieder Ruhe und Ordnung einkehren, und vor allem dass den zahllosen bewaffneten Fatah-Banden Einhalt geboten wird und sie unter eine starke, sie kontrollierende Hand gestellt werden.

Angesichts einer Reihe von sich widersprechenden Erklärungen seitens neu gewählter Hamas-Abgeordneter zum Thema Scharia und deren Durchsetzung in der palästinensischen Gesellschaft fordern viele Palästinenser Zurückhaltung von Hamas auf diesem Gebiet sowie eine klar artikulierte und in der Praxis durchgesetzte Toleranz gegenüber Andersdenkenden sowie gegenüber religiösen Minderheiten.

Hoffnung auf außenpolitischen Wandel

Außenpolitisch erwarten die Palästinenser von Hamas, dass sie ihre Stimme - klarer als die Fatah - gegen die israelische Besatzung erhebt und diese deutlicher als die "Palästinensische Autorität" bzw. die PLO auch auf der internationalen Ebene kritisiert. Vor allem aber wollen sie eine Regierung, die sich auf allen Ebenen einsetzt für konkrete Maßnahmen zur Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates.

Damit erteilen sie keineswegs dem Friedensprozess eine Absage. Vielmehr senden sie eine klare Botschaft nach außen, dass es schon seit Jahren keinen Friedensprozess mehr gibt. Und dass der Grund dafür nicht so sehr auf Seiten der Palästinenser zu suchen ist, sondern vielmehr auf Seiten des Staates Israel, der die palästinensischen Gebiete seit 1967 militärisch besetzt hält, ihnen in diesem Zeitraum durch seine Siedlungspolitik große Teile ihres Landes weggenommen und sich meist nicht an die eingegangenen Verträge gehalten hat. Wird die Hamas diese Forderungen erfüllen können und wofür steht sie heute?

In der Hamas-Charta von 1988, die im ersten Jahr des palästinensischen Aufstandes gegen die Besatzung verabschiedet wurde, ist die Rede von der Befreiung ganz Palästinas und von der Errichtung eines islamischen Staates im historischen Palästina, also nicht nur in den 1967 besetzten Gebieten, sondern auch an der Stelle des Staates Israel. Für dieses Ziel wollte Hamas mit allen Mitteln kämpfen - politisch wie militärisch. Der Gegner war der Staat Israel, wobei an verschiedenen Stellen der Charta nicht Israel, sondern der Zionismus und Juden generell angegriffen werden.

Dies geschieht in einigen Passagen mit Zitaten aus dem Koran, in anderen durch eine dümmliche Übernahme europäischer anti-semitischer Formeln und Invektiven. Gleichzeitig finden sich aber an anderen Stellen klare Bekenntnisse zur Koexistenz mit und zur Respektierung von anderen Religionsgruppen. Den Osloer Prozess lehnte Hamas von Anfang an kompromisslos ab, da er, so die Argumentation der Hamas-Führung, zentrale palästinensisch-nationalistische Forderungen aufgegeben und weitgehenden Kompromissen gegenüber Israel ohne jegliche Gegenleistung zugestimmt habe. Selbst das 1988 von der PLO einstimmig verabschiedete Ziel der Etablierung eines palästinensischen Staates in den 1967 besetzten Gebieten sei dabei stillschweigend unter den Tisch gefallen.

Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten

Der Kampf der Hamas gegen die Osloer Vereinbarungen und die trotz Oslo andauernde Besatzung wurde nicht nur politisch, sondern nach dem Massaker im Haram al-Ibrahimi in Hebron durch einen israelischen Siedler – (29 palästinensische Betende wurden dabei getötet) – vor allem mit brutaler Gewalt und mit zahllosen Selbstmordattentaten geführt : nicht in den besetzten Gebieten, sondern innerhalb Israels, und immer wieder gegen israelische Zivilpersonen. Dabei sind zwei Phasen zu erkennen: eine erste von 1994, also direkt nach dem Massaker von Hebron bis zum Herbst 1997, als Scheich Ahmad Jasin nach seiner Freilassung aus israelischer Haft alle Selbstmordattentate stoppen ließ, eine zweite von März 2001, also nach fast 6 Monaten Intifada - mit vielen Toten gerade unter der palästinensischen Zivilbevölkerung - bis Mai 2003, als Hamas einem Waffenstillstand seitens der Palästinenser zustimmte.

Innerhalb der Hamas scheint es über die Selbstmordattentate harte Auseinandersetzungen gegeben zu haben. Durchgesetzt hat sich am Ende die Gruppe, die diese Attentate von vornherein als illegitim abgelehnt hat und die eine weitere Verletzung bestehender völkerrechtlicher Normen nicht mehr dulden wollte. Seit Anfang 2005 hält die Hamas ein Stillhalteabkommen mit der "Palästinensischen Autorität" unter Mahmud Abbas ein, in dessen Schatten die Präsidentenwahlen im Januar 2005, mehrere Runden lang von Lokalwahlen in der Periode zwischen Dezember 2004 und Dezember 2005, und schließlich die Parlamentswahlen in der vergangenen Woche durchgeführt werden konnten.

Die Hamas unter Druck

Nach dem haushohen Wahlsieg der Hamas haben Israel, die USA und die Europäische Union klare Positionen bezogen: keine Verhandlungen mit Hamas, mit den Terroristen, als die sie im Westen generell abgestempelt sind, ehe Hamas nicht der Gewalt abschwört, das Existenzrecht Israels anerkennt sowie die bisher abgeschlossenen Abkommen im Rahmen des Osloer Prozesses akzeptiert. Das Dilemma der Hamas zwischen diesem massiven außenpolitischen Druck und ihren innenpolitischen Verpflichtungen erscheint fast unlösbar.

Schließlich ist sie gerade jetzt ihren Wählern gegenüber in der Pflicht, sowohl einem harten Kern von fanatischen Anhängern, die Israel - zumindest bis zu einem Ende der Besatzung über das Westjordanland - unversöhnlich gegenüberstehen, als auch den vielen Neu- und Protestwählern, die die Hamas unterstützen, weil sie von ihr einen klaren Kurs gegenüber Israel erwarten, einen Kurs, der aber auch Aussicht auf Erfolg, sprich Ende der Besatzung, Aufbau eines palästinensischen Staates und Frieden, haben sollte. Seit der Wahl versucht die Hamas deshalb, ihre außenpolitische Position neu zu bestimmen. Chalid Maschal, Chef des Hamas Politibüros, der zwischen Qatar und Damaskus pendelt, hat ein klares Votum für die Einhaltung aller internationaler Verträge abgegeben, die bis dato von der Palästinensischen Autorität abgeschlossen wurden, sprich von Oslo bis zur "Roadmap", auf der Basis eines "neuen Realismus".

Die Nummer eins auf der Hamas-Wahlliste, Ismail Hanijeh aus Gaza, hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, ihre Unterstützung für Palästina fortzusetzen. Im Gegenzug kündigte er den Aufbau einer effizienten Verwaltung an und ein projektorientiertes und transparentes Einsetzen aller finanziellen Hilfen. Gleichzeitig richtete er einen Appell an palästinensische und arabische Privatinvestoren, weiter und noch viel intensiver als bisher in Palästina zu investieren, auf der Basis eines Versprechens der Hamas, für eine positive Kooperation zwischen öffentlichem und privatem Sektor in der Wirtschaft zu sorgen.

Eine eindeutige Absage an den Einsatz von Gewalt und eine explizit ausgesprochene Anerkennung von Israel fehlen bis dato. Die Hamas hat sich zwar deutlich für den Aufbau eines palästinensischen Staates in den 1967 besetzten Gebieten ausgesprochen, was ohne Zweifel die Anerkennung Israels impliziert. Auch hat die Hamas ein klares Votum für einen politischen Prozess zur Lösung des Konfliktes mit Israel abgegeben, allerdings mit dem Verweis auf das Recht zum Widerstand gegen die andauernde israelische Besatzung.

"Waffenstillstand" statt Gewaltverzicht

Statt einer unmissverständlichen Anerkennung Israels und einer Absage an jede Gewalt, u. a. auch der Widerstandsgewalt, operiert die Hamas mit dem religiös begründeten Begriff „hudna“, auf Deutsch "Waffenstillstand". Diverse Hamas-Führer haben in diesem Kontext ihre Bereitschaft zu einem langfristigen Waffenstillstand mit Israel erklärt. Auf die ultimativ vorgebrachten Forderungen des Quartetts aus London reagierte jedoch ein Hamas-Sprecher aus Gaza mit dem Hinweis, dass die Palästinenser zumindest eine Kritik des Quartetts an der israelischen Besatzung und der von ihr ausgeübten Gewalt erhofft und gewünscht hätten, wenn nicht überhaupt eine klare an Israel adressierte Forderung, endlich ihre Besatzung über die Palästinenser zu beenden.

Überhaupt scheint der massive außenpolitische Druck vor Ort eher negative Folgen zu zeitigen und eine Verhärtung der Fronten zu produzieren. Wie sich die Hamas aus diesem außenpolitischen Dilemma befreien wird und ob ihr dies überhaupt gelingen kann, ist noch offen. Die Zeichen stehen in letzter Zeit wohl eher auf der Suche nach einem Kompromiss. Teil dieses Kompromisses wird dabei einerseits der Aufbau einer palästinensischen Regierung mit vielen Unabhängigen und Technokraten sein. Andererseits schließt dieser Kompromiss den Versuch ein, sich von der Ebene der internationalen Politik weg zu bewegen, von öffentlichen Deklarationen und dem damit einhergehenden Risiko für die Hamas, dass immer neue Konfrontationslinien geschaffen werden, hin zu einer Politik hinter geschlossenen Türen.

Die Hamas hofft darauf, dass man ihr die erforderliche Zeit gibt, um auch ihre Anhänger mitnehmen zu können auf dem Weg von einer radikalen Widerstandsbewegung hin zu einer politischen Partei, die Palästina bis zur Unabhängigkeit führen möchte. Dies wird noch viel diplomatisches Fingerspitzengefühl erfordern, gerade auch seitens der EU und der USA. Es wird vor allem aber sehr viel Mut und Bereitschaft zu historischen Entscheidungen seitens der Hamas-Führung verlangen. Ob sie dazu bereit und in der Lage ist, bleibt jedoch fraglich.

Helga Baumgarten

Helga Baumgarten ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Birzeit, Palästina. Sie hat an der Freien Universität Berlin und an der American University of Beirut gelehrt. Außerdem hat sie mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt eine politische Biographie Yassir Arafats (Ullstein 2002).

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