„Jerusalem ist der Schlüssel“
Qantara: Wenn auch brüchig, hält der Waffenstillstand in Gaza vorerst. Aber der Israel-Palästina-Konflikt ist noch lange nicht gelöst. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Yudith Oppenheimer: Wir müssen wieder einen echten politischen Verhandlungsprozess legitimieren, der die Ursachen des Konflikts angeht. Gleiche Rechte und umfassende Sicherheit für alle Menschen in der Region sowie ein palästinensischer Staat sind dabei unverzichtbar.
Wenn wir nicht das Recht beider Völker auf ein Leben in Würde und Selbstbestimmung anerkennen und stattdessen einfach zum Status quo vom 6. Oktober zurückkehren, wird sich der Kreislauf des Blutvergießens fortsetzen.
Viele argumentieren, dass die Zwei-Staaten-Lösung längst gescheitert ist. Sehen Sie das anders?
Y.O.: Zwei Staaten sind der einzig gangbare Weg. Wenn eine Ein-Staat-Lösung irgendwann einmal möglich sein sollte, kann sie nur über den Weg zweier Staaten erreicht werden.
Warum?
Y.O.: Die Unterschiede zwischen Israelis und Palästinensern sind so groß und das Ausmaß an Dämonisierung, Angst und Misstrauen so hoch, dass ein gemeinsamer Staat nicht realisierbar ist. Die Palästinenser müssen zunächst Selbstbestimmung und die Freiheit erleben, ihre Identität und politischen Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen. Ansonsten würde eine Ein-Staat-Lösung lediglich die jüdische Vorherrschaft aufrechterhalten. Aber unsere Vision sieht keine vollständige Trennung vor, sondern die Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit beider Völker.
Sie haben diese Vision in einem Dokument mit dem Titel „Hoffnung aus Jerusalem” dargelegt. Warum aus Jerusalem?
Y.O.: Seit Jahrzehnten wird Jerusalem als final status issue behandelt. Während des Oslo-Prozesses in den 90er Jahren galt die Stadt als zu kompliziert, als Hindernis für eine Lösung. Über sie sollte erst später verhandelt werden.
Wir vertreten die gegenteilige Ansicht: Jerusalem ist der Schlüssel zu einer politischen Lösung. Ohne Jerusalem als Hauptstadt sowohl der Israelis als auch der Palästinenser wird es keine Lösung geben.
In Jerusalem leben wir bereits in einem gemeinsamen Raum – wenn auch in großer Ungleichheit. Wir teilen diese Stadt seit Generationen und müssen das Recht aller auf die Stadt anerkennen.
Was würde es in der Praxis bedeuten, wenn Jerusalem Hauptstadt sowohl Israels als auch eines zukünftigen palästinensischen Staates wäre?
Amy Cohen: Wir glauben an eine offene Stadt ohne Barriere, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Siedlungsenklaven im Herzen palästinensischer Viertel müssten geräumt werden und Ostjerusalem würde eine zusammenhängende städtische Struktur haben, damit es wirklich als Hauptstadt funktionieren kann. Der zivile Besitz von Waffen würde beendet und der freie Zugang zu den heiligen Stätten für alle garantiert, letzteres mit Unterstützung internationaler Akteure wie Jordanien.
Y.O.: Das alles kann in Jerusalem funktionieren – und wenn es hier geht, geht es auch anderswo. In Jerusalem haben wir bereits das Know-how, wie man öffentliche Räume oder etwa die Hochschulbildung teilt; auch haben wir andere Elemente eines inklusiven Friedens und inklusiver Sicherheit entwickelt, was gegenseitige Abhängigkeiten und Zusammenarbeit fördert.
Ist das nicht eine romantisierte Sicht auf das Leben in Jerusalem?
Y.O.: Wir wollen nichts herunterspielen. Ostjerusalem ist besetzt und die Unterschiede zwischen den israelischen und palästinensischen Einwohnern Jerusalems sind enorm. Auch ist uns bewusst, was in der Stadt im Schatten des Gazakriegs geschehen ist.
Worauf spielen Sie an?
A.C.: Die Regierung hat neun neue Siedlungen mit mehr als 20.000 Wohneinheiten in Ostjerusalem vorangetrieben, viele im Herzen palästinensischer Viertel; sie zerstückeln den Raum immer weiter. Damit wäre das endgültige Ende des Konflikts besiegelt – eine Apartheid-Realität oder Besatzung, wie auch immer man es nennen mag.
Hinzu kommen Hauszerstörungen. 2024 wurden 181 palästinensische Häuser in Ostjerusalem zerstört, die Familien vertrieben. Es war die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen. 2025 ist auf dem besten Weg, das Jahr mit der zweithöchsten Zahl zu werden.
Und dann ist da noch die Unterdrückung der palästinensischen Identität, zum Beispiel durch Razzien in palästinensischen Buchhandlungen oder Verhaftung ihrer Besitzer.
Was meinen Sie damit, das dies im Schatten des Gazakriegs geschah?
A.C.: Jerusalem und auch das Westjordanland haben nicht genug Aufmerksamkeit erhalten, auch wenn die Situation dort nicht vergleichbar ist mit dem Blutbad in Gaza. Aber was sich in den gesamten palästinensischen Gebieten abspielt, folgt derselben Politik der Zerstörung und Vertreibung, die die Palästinenser nicht nur aus ihren Privathäusern, sondern aus ihrer kollektiven Heimat entwurzelt. Und dennoch ist es uns und unseren palästinensischen Partnern in Jerusalem gelungen, ein gewisses Maß an Ruhe und gegenseitiger Abhängigkeit aufrechtzuerhalten.
„Ein Buch über Hoffnung, Wut und Angst“
Mahmoud Muna ist Inhaber des „Educational Bookstore“ in Ostjerusalem und einer der Herausgeber:innen von „Daybreak in Gaza“. Das Buch versammelt Geschichten von über hundert Menschen aus Gaza, die ihr Leben vor und während Israels Krieg gegen die Enklave dokumentieren.
Wie sieht diese Abhängigkeit aus?
Y.O.: Auf den Straßen Jerusalems mag man extremistische Meinungen hören, dennoch gehen die Menschen im Park neben Palästinensern spazieren, fahren mit derselben Straßenbahn, lassen sich in Krankenhäusern von palästinensischen Ärzten behandeln oder teilen den Arbeitsplatz.
Was die Menschen im Alltag praktizieren, kann sehr wirkungsvoll sein, um progressive Konzepte zu normalisieren. Allerdings reicht das allein noch nicht. Es braucht auch die aktive Zivilgesellschaft auf beiden Seiten.
Was macht die?
Y.O.: Direkt nach dem 7. Oktober, als einige Palästinenser Angst hatten, ihr Haus zu verlassen, haben wir ein Hilfsforum ins Leben gerufen. Die Aktionen reichten von Lebensmittelpaketen über die Begleitung zum Arbeitsplatz bis zu Nachhilfeangeboten.
A.C.: Ein weiteres Beispiel ist Sprachaustausch. Hebräisch-Kurse für Palästinenser und Arabisch-Kurse für Israelis sind überfüllt. Es gibt auch feministische Initiativen, die Beratung bei Fruchtbarkeitsproblemen in beiden Sprachen anbieten.
Y.O.: Aber mann muss verstehen, dass solche Formen von Zusammenarbeit und gegenseitiger Abhängigkeit nicht von der Regierung gefördert werden. Die aktuelle Führung in Jerusalem glaubt, ihren Plan der jüdischen Vorherrschaft vorantreiben zu können.
Willkommen in Abraham/Ibrahim
Friedensperspektiven im Nahen Osten. Wer hat’s erfunden? Die Schweizer. Warum sich für eine Lösung des Konflikts in Nahost ein Blick auf die Eidgenossenschaft lohnen könnte.
Als Trump im Oktober Jerusalem besuchte, erwähnte er kein einziges Mal die Zwei-Staaten-Lösung. Dennoch scheint die US-Administration eine Tür für einen palästinensischen Staat offen zu halten ...
A.C.: ... basierend auf Israels Bedingungen für eine Zwei-Staaten-Lösung! Es stimmt zwar, dass Trumps 20-Punkte-Plan zur Beendigung des Gazakriegs im September einen „politischen Horizont” sowie „palästinensische Staatlichkeit” erwähnte. Aber der Plan ging nicht darauf ein, was das bedeutet.
Meine Sorge ist, dass diese Begriffe nur aufgenommen wurden, um die internationale Gemeinschaft und die Palästinenser zu beschwichtigen. Trump verweigert es, sich in irgendeiner Form zum Westjordanland oder Ostjerusalem zu äußern – was äußerst besorgniserregend ist. Was wir aus den USA sehen, ist keine Friedensinitiative.
Vor einigen Jahren noch, als Trump und Kushner 2020 ihren „Deal des Jahrhunderts“ vorschlugen, hatten sie sich explizit zum Westjordanland und Jerusalem geäußert und eine Art Zwei-Staaten-Lösung vorgeschlagen.
Y.O.: Dieser Plan griff die Idee einiger israelischer Politiker auf, ein palästinensisches Jerusalem außerhalb von Jerusalem zu schaffen. Trump schlug die Stadt Abu Dis als palästinensische Hauptstadt vor – in der Nähe von Jerusalem, aber weit entfernt von dessen historischem Zentrum.
Aber so etwas wird von den Palästinensern niemals akzeptiert werden. Es war demütigend und zeigt, wie respektlos sie den Palästinensern als Partner gegenüber sind. Der Plan war das beste Beispiel, dass Trumps Ansatz den Wunschvorstellungen der israelischen extremen Rechten entspricht. Das ist das Gegenteil unserer Vision.
Wird Ihre Version vorangebracht durch Schritte wie die Anerkennung eines palästinensischen Staats? Viele westliche Länder haben dies ja kürzlich verkündet.
Y.O.: Anerkennung ist ein symbolischer Akt, aber Symbolik ist extrem wichtig. Eine stärkere Erklärung, dass man die Zwei-Staaten-Lösung unterstützt, gibt es nicht. Gleichzeitig muss dies in die Realität umgesetzt werden.
Was braucht es, um wirklich zu einer politischen Lösung des Konflikts zu gelangen?
Y.O.: Die arabischen Staaten müssen weiter ihren Einfluss auf Trump und die Palästinenser geltend machen. Europa, einschließlich Deutschland als Israels zweitengsten Verbündeten, muss mit beiden Parteien zusammenarbeiten, zugleich aber klare rote Linien ziehen.
Die schrecklichen Entwicklungen der letzten zwei Jahre haben die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung wiederbelebt – aber ohne internationales Beharren auf Bedingungen, die eine Lösung wirklich möglich machen, werden wir wieder in der Sackgasse landen.
A.C.: Seit Jahrzehnten – besonders aber in den letzten zwei Jahren – beobachten wir Verstöße gegen globale Normen, nicht nur in Bezug auf die Zwei-Staaten-Lösung, sondern auch auf die Weltordnung insgesamt. Diese Erosion der Rechenschaftspflicht hat zum 7. Oktober und zur massiven Zerstörung in Gaza geführt.
Selbstverständlich trägt Israel und natürlich auch die palästinensische Seite Verantwortung. Gleichzeitig aber steht die internationale Gemeinschaft in der Verantwortung, beide Seiten zur Rechenschaft zu ziehen.
Sie kann Druck auf beide Seiten ausüben, sich nicht mit einem Waffenstillstand zufrieden zu geben. Sie kann Israel und die Palästinenser zwingen, einen Weg zu einem politischen Prozess zu finden, der zu Selbstbestimmung, zu gleichen Rechten für alle zwischen Fluss und Meer und letztlich zu regionaler Stabilität führt.
Dies ist eine KI-unterstützte Übersetzung des englischen Originals; Übersetzung: Jannis Hagmann.
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