Das Grundgesetz setzt den Rahmen
Im Jahr 2006 brach Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ein Tabu: Mit dem Segen der Koalitionspartner CDU/CSU und SPD rief er die "Deutsche Islam Konferenz" ins Leben – den "ersten institutionalisierten Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen", wie der Innenminister am 28. September jenes Jahres vor dem Deutschen Bundestag freimütig bekannte.
Nicht, dass die Themen dieses bald ins zehnte Jahr gehenden Diskussionsprozesses strittig gewesen wären. Doch mit dem Anspruch, mit staatlicherseits ausgesuchten Repräsentanten einer der großen Weltreligionen in einen Dialog zu treten, betrat Schäuble religionspolitisches Neuland.
Denn anders als der österreichische Staat, der im Jahr 1912 den Islam nach der im annektierten Bosnien verbreitetsten Rechtsschule als Religionsgesellschaft anerkannt und ihm damit eine Rechtspersönlichkeit verliehen hatte, besaß und besitzt die Bundesrepublik bis heute auf muslimischer Seite keinen Ansprechpartner, der den Anforderungen an Religionsgesellschaften oder -gemeinschaften als einen Zusammenschluss aller Angehörigen eines bestimmten Bekenntnisses innerhalb eines bestimmten Gebiets zur gemeinschaftlichen Erfüllung der durch das Bekenntnis gestellten Aufgaben genügen würde.
Die erste muslimische Organisation mit Körperschaftsstatus
Von diesen und nur diesen aber handelt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in seinen institutionellen Bestimmungen. Kirchen kennt das Grundgesetz, das die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, gerade nicht, Vereine zum Zweck der Religionsausübung unterfallen einfachgesetzlichen Regelungen. Eine Diskriminierung von Muslimen in Deutschland geht mit dieser Konstruktion nicht einher. Auch wenn der Islam sich nach seiner Struktur und von seinem Selbstverständnis her kaum als vollgültige Religionsgemeinschaft organisieren kann, so steht den Muslimen diese Organisationsform prinzipiell offen. Überdies zeigt sich in der jüngeren Rechtsprechung die pragmatische Tendenz, auch Dachverbände muslimischer Organisationen in die Nähe von Religionsgesellschaften zu rücken.
Allerdings wird sich noch weisen müssen, ob damit auch die Möglichkeit verbunden sein wird, als Verbände in den Genuss der Privilegien wie Steuerhoheit oder Dienstherrenfähigkeit zu kommen, die eine Religionsgesellschaft dann in Anspruch nehmen kann, wenn sie als "Körperschaft öffentlichen Rechts" anerkannt ist.
Nach dem Grundgesetz bedarf es dazu nicht viel: Nach Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 5 der Weimarer Reichsverfassung müssen Religionsgemeinschaften "durch ihre Verfassung und die Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". In diesem Sinn sind nicht nur Kirchen wie die katholische und die evangelische Kirche als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt. Die gleichen Rechte genießen etwa seit langem auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin oder die Zeugen Jehovas.
Muslimische Glaubensgemeinschaften könnten bald in nicht unerheblicher Zahl hinzukommen – so sie es denn wollten. Im Jahr 2013 hat das Land Hessen der etwa 35.000 Mitglieder zählenden Ahmadiyya Muslim Jamaat als erster muslimischer Organisation den Körperschaftsstatus zuerkannt - auf Antrag. Das Land Hamburg ist dieser Entscheidung ein Jahr später gefolgt. Dass der Koordinationsrat der Muslime (KRM) das Islamverständnis dieser Organisation mit dem Islam für unvereinbar hält, hat die Länder nicht zu interessieren.
Freiheitsgarantien für Angehörige jedweder Religion
Die Anerkennung weiterer muslimischer Vereine oder Organisationen als Körperschaften öffentlichen Rechts wird daher auch nicht der Weg sein, auf dem sich die Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft sowie unter Muslimen untereinander lösen lassen.
Auch ein Islamgesetz, wie es der österreichische Nationalrat am Mittwoch (25.02.2015) verabschiedet hat, könnte diese Anforderungen nicht erfüllen. Weder steht es dem Bundesgesetzgeber zu, auf dem Gesetzesweg die Verfassung auszuhebeln und die Kultushoheit der Länder einzuschränken, noch ließen sich mit einem Bundesgesetz die institutionellen Hürden im Verhältnis von Staat und muslimischen Organisationen überspringen, die sich aus dem Islam selbst ergeben – ganz davon abgesehen, dass es ein merkwürdiges voraufklärerisches Verständnis der Rolle des Staates offenbarte, wollte er sich gegenüber dem Islam als Büttel der Aufklärung gerieren.
Der Bund hat sich daher in der mittlerweile dritten Legislaturperiode für die Deutsche Islam Konferenz als Dialogforum entschieden. "Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart, und er ist Teil unserer Zukunft", sagte Schäuble im Jahr 2006. Seither hat die Konferenz, der neben Repräsentanten des Staates Vertreter muslimischer Verbände, aber keine Einzelpersönlichkeiten mehr angehören, zahlreiche Empfehlungen formuliert.
Nach der Verfassung ist es Aufgabe der Länder und Kommunen, diese aufzugreifen und zu verwirklichen, sei es in Form lokaler Integrationsvereinbarungen, sei es in Form von gesetzlichen Regelungen über islamischen Religionsunterricht als Regelfach an öffentlichen Schulen wie in Nordrhein-Westfalen, sei es in einem Staatsvertrag, wie ihn Hamburg mit drei muslimischen Verbänden über Themen wie gemeinsame Wertegrundlagen, islamische Feiertage oder die religiöse Betreuung in Krankenhäusern, Heimen oder Justizvollzugsanstalten geschlossen hat.
Doch gleich welche institutionellen Formen der Islam in Deutschland annehmen wird: Das Grundgesetz garantiert und schützt in Artikel 4 Absatz 1 und 2 und damit auf dem Feld der Grundrechte die Freiheit des Glaubens, des Bekenntnisses und der Religionsausübung von jedermann, und das nicht allein als positive und negative Freiheit, sondern auch auf individuellen, der kollektiven und der korporativen Ebene.
Diese Freiheitsgarantien a priori gelten für Angehörige jedweder Religion. Damit haben Muslime in Deutschland nicht nur mehr Freiheiten als in den meisten Ländern, in denen ihrer Religion das Rechtssystem prägt, sondern auch mehr Rechte.
Daniel Deckers
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015