Die vergessene Hälfte
Unmittelbar nach Verhängung des Ausnahmezustands in Libyen verteilte die Regierung in Tripolis Gelder zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Die Hälfte davon floss in dubiose Geschäfte und hatte vor allem zum Ziel, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Denn die Menschen wissen sehr genau, dass sie im Falle eines gesundheitlichen Notstands keine Hilfe zu erwarten haben.
Nicht erst seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 reisen Libyer zur medizinischen Behandlung nach Tunesien. Diese Möglichkeit ist ihnen aktuell genommen, da die Grenzen wegen der Quarantänebestimmungen geschlossen sind. Allerdings konnten Frauen schon lange vor der Pandemie nicht mehr auf eigene Faust reisen.
Die aufgrund des dysfunktionalen Sicherheitsapparats desolate Sicherheitslage hat zur Folge, dass Frauen faktisch von der gesundheitlichen Versorgung abgeschnitten sind. Neben ständig drohenden bewaffneten Überfällen sind die Straßen gespickt mit gefälschten Kontrollpunkten, an denen Bürger zur Erpressung von Lösegeld entführt werden.
Vertrieben und abgeschnitten von gesundheitlicher Versorgung
Die Lage im Westen des Landes ist wegen des anhaltenden Bürgerkriegs noch schlechter geworden. Krankenhäuser, Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal werden häufig zur Zielscheibe. Am 7. April trafen schwere Granaten der Libysch-Nationalen Armee (LNA) die Entbindungsstation des Al-Khadra-Krankenhauses. Ein Mitarbeiter wurde verletzt, die Einrichtungen des Krankenhauses wurden beschädigt.
Das Al-Khadra-Krankenhaus war zur Behandlung von COVID-19-Patienten vorgesehen. Das Königliche Krankenhaus in Tareeq Al-Shouq, südlich von Tripolis, wurde Ende April zerstört. Aber auch ganz allgemein mangelt es Krankenhäusern an Ausrüstung, Trinkwasser und Betten zur Aufnahme von Infizierten. Das medizinische Personal – das zur Mehrzahl aus Frauen besteht – ist der Ansteckungsgefahr weitgehend schutzlos ausgesetzt.
Im Kinderkrankenhaus von Al-Jalaa wurde eine Patientin mit Verdacht auf COVID-19 von einer Ärztin aufgenommen, die sich später selbst in Quarantäne begeben musste. Derartige Umstände können zu einer Stigmatisierung des medizinischen Personals führen. Das kann insbesondere Frauen treffen; zumal in einer Gesellschaft, die das Ansehen weitaus stärker zur Kontrolle von Frauen als von Männern instrumentalisiert. Die damit verbundenen schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen können dazu führen, dass sich Frauen ganz aus dem Gesundheitssektor zurückziehen.
Verschiedene Mechanismen im Umgang mit der Pandemie
Angesichts der politischen Spaltung des Landes entlang geographischer Grenzen hat jede Seite ihren eigenen Mechanismus im Umgang mit der Pandemie entwickelt. Die Machthaber in Ost-Libyen versuchten, alle Stimmen zu kontrollieren und auszuschalten, die die Zustände im Gesundheitssystem auch nur ansatzweise kritisieren.
Die Machthaber in West-Libyen, die auch die Hauptstadt Tripolis kontrollieren, ergriffen präventive Maßnahmen und verhängten strenge Ausgangssperren. Wer dagegen verstößt, wird mit Geldstrafen belegt. Dies hat die Sicherheitskräfte, die in der Hauptstadt bereits nach Gutdünken operieren, weiter gestärkt.
Die Ausgangssperre könnte zur Abflachung der Infektionskurve beitragen. Unberücksichtigt bleiben allerdings die humanitären Auswirkungen auf Familien, die aufgrund des mittlerweile zehnjährigen Bürgerkriegs ohnehin existenziell bedroht sind.
Frauen am stärksten betroffen
Frauen sind davon am stärksten betroffen. Darunter fallen Binnenvertriebene, Frauen mit niedrigem Einkommen oder Frauen, die an abgelegenen Orten leben und Alleinversorgerinnen sind. Für diese Frauen ist die finanzielle und logistische Lage besonders schwierig.
Viele können es sich gar nicht leisten, von ihrer Arbeit fernzubleiben. Sie sind auf ihren täglichen Lohn und den freien Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln angewiesen. Diese besondere Problematik für Frauen wurde weder bei der Zuweisung von Mitteln noch bei den Lockdown-Maßnahmen der Regierung berücksichtigt oder bewertet.
Regierung ist nicht geschlechterintegrativ
Als der COVID-19-Krisenausschuss seine Pläne bekanntgab, war sofort klar, dass die besonderen Auswirkungen der Pandemie auf Frauen nicht berücksichtigt worden waren. Daraufhin unterzeichneten vierzehn lokale Organisationen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen, einen offenen Brief an den Präsidentenrat, in dem sie nachdrücklich forderten, die geschlechtsspezifischen Empfehlungen in den Aktionsplan zur Bekämpfung von COVID-19 aufzunehmen.
Eine Antwort des Präsidentenrats auf dieses Schreiben blieb bis heute aus. Binnenvertriebene Frauen erhalten weiterhin keine humanitäre Hilfe oder Entschädigung. Ebenso wenig wurde die Lage der Frauen bewertet, die aufgrund der Pandemie Gefahr laufen, ihre Existenzgrundlage zu verlieren.
Hinzu kommt, dass keinerlei Überlegungen gegen die Zunahme der geschlechtsspezifischen Gewalt angestellt wurden. In den ersten Wochen des Lockdowns wurden landesweit bereits drei Frauen von ihren Partnern ermordet. Es gibt keine amtlichen Instrumente zur Meldung häuslicher Gewalt. Ein öffentlicher Diskurs zu diesem Tabuthema bleibt in Libyen bislang aus. Frauen, die im häuslichen Umfeld gefährdet sind, haben keine Anlaufstelle. Im Gegenteil: Ihnen bleiben jetzt noch weniger Möglichkeiten, anderswo Hilfe zu finden.
Wegen der Ölblockade und des Lockdowns hat der Präsidentenrat zudem die Löhne gekürzt (mit Ausnahme der eigenen, selbstverständlich). Laut Hala Bugaighis, Frauenrechtlerin aus Tripolis, werden Frauen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen allgemein schlechter bezahlt als Männer und laufen eher Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Dies kann erhebliche Auswirkungen auf die Migranten in Libyen haben, insbesondere auf den weiblichen Teil dieser Gemeinschaft.
Frauen helfen sich selbst
Trotz der deutlichen Schrumpfung der zivilgesellschaftlichen Räume seit 2014 leisten Nichtregierungsorganisationen unermüdlich ihren Beitrag, meist in Partnerschaft mit Gemeinden. Den zivilgesellschaftlichen Organisationen fehlen oft die Ressourcen zur Umsetzung ihrer eigenen Lösungen.
[embed:render:embedded:node:39536]Allerdings haben viele mittlerweile freiwillige unabhängige Initiativen ins Leben gerufen. Mehrere Online-Kampagnen wie "Quarantine" und "Don't overburden yourself" sensibilisieren die Öffentlichkeit für die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von COVID-19, zeigen die zunehmenden Vorfälle häuslicher Gewalt auf, bieten den Überlebenden Rechtsberatung an und helfen bedürftigen Frauen.
Auch Kleinunternehmerinnen sind von der Pandemie betroffen. Dennoch helfen sie ihren örtlichen Gemeinden, indem sie mit ihren Nähwerkstätten und Textilgeschäften medizinische Hilfsmittel für die Krankenhäuser bereitstellen. So beispielsweise das Unternehmen Lybotics, das medizinischen Mundschutz im 3D-Druck anfertigt. Die libysche Zivilgesellschaft ist flexibel geblieben, während der Staat ihr kaum Beachtung schenkt.
Die regierenden politischen Kräfte neigen dazu, die Zivilgesellschaft zu ignorieren, obwohl sie direkten Kontakt zu den bedürftigen Gemeinschaften haben und daher in der Lage wären, potenzielle Risiken besser einzuschätzen und gegenzusteuern. Der ausgesprochen geschlechtsspezifische Charakter des libyschen Konflikts bringt es mit sich, dass Frauen aus dem Blick geraten: Sie kämpfen nicht und sind nicht in der Regierung vertreten.
Auch mangelt es am Austausch zwischen Entscheidungsträgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Deren Beitrag in der Politik fehlt weitgehend. Die Regierung sollte reguläre Kanäle zur Kommunikation mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen und insbesondere mit Frauen einrichten.
Die Auswirkungen der Pandemie sind konkret greifbar. Die Kriegsparteien und ihre Unterstützer im Ausland müssen sämtliche Feindseligkeiten beenden, nicht nur, um eine Lösung für den Bürgerkrieg zu finden, sondern auch, um die immensen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu bewältigen, die COVID-19 an Libyen stellt.
Mehr denn je ist Libyen auf den Beitrag aller angewiesen, damit das von Bürgerkrieg und Pandemie gebeutelte Land die kommenden Veränderungen überstehen kann.
Asma Khalifa
Aus dem Englischen von Peter Lammers
Asma Khalifa ist eine libysche Aktivistin und Forscherin, Mitbegründerin der "Tamazight Women's Movement" (TWM). Derzeit ist sie Forschungsstipendiatin und Doktorandin am "Deutschen Institut für Globale und Regionale Studien". Im Jahr 2016 wurde Asma während des Weltfriedensforums mit dem Luxemburger Friedenspreis ausgezeichnet und im Jahr darauf zu einer der "100 einflussreichsten jungen Afrikanerinnen" ernannt.