Entspannung nach mehr als 30 Jahren?

Gespräche im Januar in Moskau haben die lange Eiszeit zwischen der Türkei und Armenien beendet. Bei den Verhandlungen stehen Fragen von Handel und Warenverkehr im Vordergrund. Die Türkei würde gerne auf die Einbindung Dritter verzichten, aber Russland spielt eine zentrale Rolle als Vermittler. Von Leyla Egeli

Von Leyla Egeli

Am 14. Januar dieses Jahres trafen sich Vertreter der Türkei und Armeniens in Moskau, um diplomatische Beziehungen anzubahnen. Es waren die ersten derartigen Gespräche seit den gescheiterten Verhandlungen in 2009. Im Anschluss an die neunzigminütige Sitzung fand zwar keine Pressekonferenz statt, aber bestätigte Quellen berichteten, die Stimmung sei gut gewesen. Angesicht der Brisanz der Gesprächsthemen ist es für uneingeschränkten Optimismus allerdings noch zu früh.

Die Vertreter beider Staaten – Serdar Kilic für die Türkei und Ruben Rubinyan für Armenien – vereinbarten eine Fortsetzung der Gespräche. Ihr Ziel: Bestehende Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und gleichzeitig Proteste in beiden Ländern sowie in der armenischen Diaspora zu entschärfen.

Das nährt die Hoffnung, dass sich das politische Führungspersonal der Türkei und Armeniens tatsächlich an einen Tisch setzt, sich die Hände reicht und die diplomatischen Beziehungen wieder aufnimmt – nach einer Pause von mittlerweile mehr als dreißig Jahren.

— media armenia (@MediaArmenia) January 14, 2022



 

Kritische Punkte und Schritte zu einer Lösung

Als Armenien im September 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, entsandte die türkische Regierung eine Delegation, um diplomatische Beziehungen mit dem neuen Staat aufzunehmen. Doch die armenische Regierung reagierte zurückhaltend. Verständlich angesichts des kollektiven Traumas, das die Massendeportation von Armeniern aus dem osmanischen Staatsgebiet 1915 hinterlassen hatte. Einige Regierungsmitglieder forderten sogar eine Änderung des Grenzverlaufs als Voraussetzung für eine Aufnahme von Beziehungen mit der Türkei.

Trotz der zögerlichen Haltung Armeniens erkannte die Türkei die Unabhängigkeit des Landes im Dezember 1991 an. Doch noch bevor Botschafter ernannt werden konnten, besetzte Armenien Berg-Karabach. Die Türkei stand in dem Konflikt auf der Seite Aserbaidschans, einer Nation, die die Türken als ihre "Brüder und Schwestern“ betrachten.

1993 schloss die Türkei die Grenzen zu Armenien, kappte die Flug- und Zugverbindungen und unterbrach sämtliche Transithandelswege. Armenien wurde vergeblich aufgefordert, sich aus Berg-Karabach zurückzuziehen, einer Region, die mehrheitlich von Armeniern besiedelt ist, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Seither sind Gespräche über die Ereignisse von 1915, den Konflikt um Berg-Karabach und die Grenzansprüche eingefroren und harren einer Lösung.

In den aktuellen Gesprächen behandeln Eriwan und Ankara Themen, die einfacher zu lösen sind und beiden Seiten greifbare Vorteile bringen – wie etwa Fragen von Handel und Warenverkehr. So hob Armenien bereits im Januar das Einfuhrverbot für türkische Waren auf.

Der russische Präsident Wladimir Putin (Foto: picture-alliance/dpa/Planet Pix via Zuma Wire)
Insbesondere für Armenien ist Russlands Rolle von Bedeutung. Doch angesichts der engen wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland vermeidet auch Ankara alles, was Moskau verärgern könnte. So erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am 30. Dezember: "Wir können nachvollziehen, dass Russland und Armenien die Gespräche in Moskau führen möchten. Für uns spielt es allerdings keine Rolle, welches Land als Dritter involviert ist. Dennoch danken wir Russland für seinen Beitrag zu dieser Initiative.“

Vor dem eigentlichen Treffen in Moskau wurde eine weitere vertrauensbildende Maßnahme vereinbart und umgesetzt: Am 2. Februar wurden die Flüge zwischen den Hauptstädten Eriwan und Istanbul wieder aufgenommen, ein ebenso wegweisender wie konkreter Schritt zur Verbesserung der Beziehungen.

Aus diplomatischen Kreisen war zu hören, dass beide Seiten an einem Terminplan für die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen arbeiten. Da es für den Handel zwischen den Ländern bisher keine rechtsverbindlichen Standards gibt, dürfte die Öffnung der Landesgrenzen ein eher langfristiges Projekt werden. Sobald diese Hürde aber genommen ist und die Menschen in beiden Ländern die damit verbundenen Vorteile erkennen, sollen Botschafter ernannt werden.

Nationale und internationale Faktoren

Die Entscheidung für eine schrittweise Annäherung erklärt sich aus den Erfahrungen mit dem Scheitern der Bemühungen im Jahr 2009. Damals setzten beide Länder auf die Vermittlung der Vereinigten Staaten in zahlreichen hochrangigen Gesprächen, die sich über ein Jahr hinzogen. Man unterzeichnete Protokolle zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und öffnete die Grenzen.

Der Widerstand einiger armenischer Politiker und ihrer Wähler brachte die Angelegenheit jedoch vor das armenische Verfassungsgericht. Die Kläger forderten verschiedene Änderungen an den Protokollen, die die Türkei jedoch ablehnte.

Auch Aserbaidschan reagierte damals ablehnend: Man war darüber verärgert, dass die Türkei eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Armenien anstrebte, während gleichzeitig armenische Truppen in Berg-Karabach stationiert blieben. Aserbaidschans Präsident Alijew blieb damals den Gipfeltreffen in der Türkei fern und äußerte sich in der Presse gezielt ablehnend. Schließlich drohte Aserbaidschan damit, den Preis für seine Gaslieferungen in die Türkei zu erhöhen, was einer der Hauptgründe für das Scheitern des Prozesses gewesen sein dürfte.

Da Berg-Karabach seit dem Konflikt im Herbst 2020 wieder von Aserbaidschan kontrolliert wird, dürfte die aserbaidschanische Regierung wohl kaum erneut gegen die Wiederannäherung mobil machen, wie dies noch 2009 der Fall war. Aus diplomatischen Kreisen in der Türkei ist denn auch zu vernehmen, dass Ankara den Prozess zur Wiederaufnahme von Gesprächen mit Eriwan unmittelbar in Gang gesetzt hatte, nachdem die Region wieder an Aserbaidschan gefallen war.

Graves of Armenian soldiers killed during the Nagorno-Karabakh conflict with Azerbaijan in autumn 2020 (photo: picture-alliance/dpa)
Trotz der Verluste an Menschenleben, den die Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach im Herbst 2020 forderten, könnte der Ausgang des Konflikts den Verhandlungsführern in die Hände spielen. Da Berg-Karabach wieder von Aserbaidschan kontrolliert wird, dürfte die aserbaidschanische Regierung wohl kaum erneut gegen die Wiederannäherung mobil machen, wie dies noch 2009 der Fall war. Laut diplomatischen Kreisen in der Türkei hatte Ankara den Prozess zur Aufnahme von Gesprächen mit Eriwan unmittelbar in Gang gesetzt, nachdem die Region wieder an Aserbaidschan gefallen war. "Eine Normalisierung wird der Stabilität in der Region zugutekommen, was für alle wichtig ist. Wenn Armenien weiter eine positive Haltung vertritt, werden die Grenzen geöffnet und diplomatische Beziehungen beschlossen“, so die Quelle.



"Eine Normalisierung wird der Stabilität in der Region zugutekommen, was für alle wichtig ist. Wenn Armenien weiter eine positive Haltung vertritt, werden die Grenzen geöffnet und diplomatische Beziehungen beschlossen.“

Dennoch bleiben die Ereignisse von 2015, als Hunderttausende von Armeniern vertrieben und auf Todesmärsche geschickt wurden, eine potentielle Hürde in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Diese Gräueltaten werden von Armenien und zahlreichen westlichen Staaten als Völkermord eingestuft. Teile der armenischen Bevölkerung und der politischen Führung fühlen sich angesichts der Lieferung türkischer Drohnen an Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach im letzten Jahr an das Verhalten des Osmanischen Reichs erinnert.

Jetzt obliegt es der armenischen Regierung, die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Türkei ein vertrauenswürdiger Handelspartner sein könnte, der angesichts seiner 80 Millionen Einwohner einen gewaltigen potentiellen Markt darstellt. Armeniens Präsident Nikol Paschinjan ging zwar als Verlierer aus dem militärischen Konflikt um Berg-Karabach hervor, aber trotzdem wurde seine Regierung bei den letzten Wahlen im Juni 2021 bestätigt.

Die Zeichen für eine positive Entwicklung der Gespräche stehen nach dem ersten Treffen am 14. Januar gut. Beide Seiten kamen überein, die Gespräche ohne Vorbedingungen fortzusetzen.

Türkei drängt auf "direkten Dialog“

Das erste Treffen zielte auch darauf ab, eine Roadmap für einen direkten Dialog aufzustellen, also ohne Beteiligung Dritter. So könnten Armenien und die Türkei neue Protokolle zur Ausgestaltung der rechtlichen und politischen Infrastruktur für den Normalisierungsprozess verfassen, ohne die Interessen anderer berücksichtigen zu müssen.

Da die Idee der "Sondervermittler“ auf Moskau zurückgeht, kam Ankara allerdings nicht umhin, den positiven Beitrag Russlands zu den Verhandlungen zu begrüßen und somit einem Treffen in Moskau zuzustimmen.

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So erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am 30. Dezember: "Wir können nachvollziehen, dass Russland und Armenien die Gespräche in Moskau führen möchten. Für uns spielt es allerdings keine Rolle, welches Land als Dritter involviert ist. Dennoch danken wir Russland für seinen Beitrag zu dieser Initiative.“

Insbesondere für Armenien spielt die Rolle Russlands weine große Bedeutung. Doch angesichts der engen wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland vermeidet auch Ankara alles, was Moskau verärgern könnte – auch vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehungen der Türkei zum Westen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte kürzlich, sein russischer Amtskollege Vladimir Putin heiße den Prozess zwischen beiden Ländern gut. Auch die Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der europäischen Staaten stehen hinter der jüngsten Initiative, wie bereits 2009. Das lässt sich für die Türkei als gutes Zeichen deuten: Die türkische Delegation ging beim ersten Treffen zweifellos mit gestärktem Selbstbewusstsein in die Verhandlung der Bedingungen für eine russische Beteiligung.

Noch nicht einig wurde man sich im Januar über den Ort des zweiten Treffens. So bleibt die Frage: Wird Russland weiter seine Hand über die Verhandlungen halten?

Leyla Egeli

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers