Kampf um Wahrheit und historischen Kontext
War es ein Völkermord? Türkische Offizielle in Deutschland beschweren sich darüber, dass ihnen im Zusammenhang mit Armenien immer nur eine Frage gestellt wird: "War es ein Völkermord?" "Wenn man dann Nein sagt", so der Sprecher der türkischen Botschaft, Necmettin Altuntas, "will niemand mehr wissen, warum eigentlich nicht. Das genügt schon, damit hat man sich dann schon als Völkermord-Leugner denunziert". Tatsächlich hat sich die türkische offizielle Politik durch ihr stures Beharren darauf, es sei doch gar nichts passiert in den Jahren von 1915 bis 1917 – natürlich habe es Tote gegeben, aber es sei nun einmal Krieg gewesen – mittlerweile fast weltweit isoliert.
Tatsächlich hört deshalb außerhalb der Türkei kaum noch jemand hin, wenn auch von integren Leuten die Völkermord-These in Zweifel gezogen wird, und tatsächlich versteht deshalb außerhalb der Türkei kaum jemand, warum auch die heutige türkische Regierung noch so vehement auf ihrer Position beharrt, wie alle ihre Vorgängerregierungen dies auch getan haben.
Hilfestellung zum Verständnis
Wer diese Haltung verstehen will, kommt mit dem jetzt wieder neu aufgelegten, nach wie vor eindrucksvollen und wichtigen Buch "Armenien und der Völkermord – Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung" von Taner Akcam schon einmal einen großen Schritt weiter. Taner Akcam ist einer der wenigen türkischen Historiker, der die Vertreibungen und Massaker an einem großen Teil der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches auch als Völkermord bezeichnet. Aber Taner Akcam lebt und arbeitet auch nicht in der Türkei, sondern kam Anfang der 1980er Jahre als politischer Flüchtling nach Deutschland, hat sein Handwerk am Reemtsma-Institut in Hamburg gelernt und lehrt heute an einer Universität in den USA.
Warnung vor vorschnellen Schlussfolgerungen
Insofern repräsentiert er nicht die Diskussionen innerhalb der Türkei. Trotzdem hat er, anders als die meisten armenischen Historiker, versucht zu erklären, wie es zu dem Völkermord kommen konnte. Dazu gehört, und das hat Akcam getan, die Ereignisse im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges und die Motive der Täter in einen historischen Kontext zu stellen. Der entscheidende Unterschied zwischen dem armenisch-westeuropäisch-amerikanischen Blick und dem türkischen ist die unterschiedliche Darstellung und Gewichtung der historischen Abläufe.
Deshalb warnt Akcam seine Leser vor vorschnellen Schlüssen. Er ruft seine armenischen Kollegen dazu auf, sich ernsthaft auf eine Auseinandersetzung um die "Völkermord-Lüge" einzulassen. "Man kann mit diesem Komplex nicht so verfahren, wie bei den NS-Verbrechen und der Ausschwitz-Lüge, die geschichtswissenschaftlich und juristisch eindeutig geklärt sind. Bezüglich der türkisch-armenischen Verhältnisse ist man von einer solchen Situation meilenweit entfernt", stellt er im Vorwort des Buches fest. Das Buch Taner Akcams besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil beschreibt er die Vorgeschichte des Völkermordes, die Entstehung der Jungtürkischen Nationalbewegung als Reaktion auf die ethnischen Bewegungen der anderen Völker im Osmanischen Vielvölkerstaat.
Er beschreibt, warum die Führung der jungtürkischen Bewegung in den Armeniern eine Bedrohung und ein Hindernis für ihre Pläne zur Gründung einer türkischen Republik sahen und wie sie deshalb in der Ermordung und Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus den östlichen Provinzen Anatoliens die Lösung der Armenierfrage sahen.
Die Istanbuler Kriegsverbrecher-Prozesse
Zum Zweiten macht Taner Akcam auf ein heute weitgehend vergessenes Kapitel in der Aufarbeitung der Schuldfrage aufmerksam. Er untersucht die Kriegsverbrecher-Prozesse, die nach der Niederlage der Osmanen in den Jahren 1919-1921 in Istanbul durchgeführt wurden. Zwar hatten die Siegermächte als Besatzer einen großen Einfluss darauf, dass diese Prozesse gegen die Verantwortlichen an den Armenier-Massakern überhaupt zustande kamen, bei dem Gericht handelte es sich aber um ein türkisches Militärgericht, das vom Sultan eingesetzt worden war. Aus der Geschichte dieser Prozesse, die zu etlichen Todesurteilen führten, von denen drei auch vollstreckt wurden, und der parallel dazu immer stärker werdenden türkischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die Besatzungsmächte entwickelte sich die heutige türkische Position zu der armenischen Tragödie.
Die Rolle der armenischen nationalen Bewegung
Der zeitliche Zusammenhang zwischen den Prozessen und dem Befreiungskrieg, der als konstituierendes Element des heutigen türkischen Staates gilt, macht es der türkischen Seite so schwer, unvoreingenommen auf die damaligen Ereignisse zu blicken. Denn auch die alliierten Sieger benutzten die armenische nationale Bewegung vor und nach dem Krieg als politische Karte gegen die Türken. Zunächst machte man dem Sultan und der Regierung Hoffnungen, dass sie bei einer Verurteilung der Massaker an den Armeniern mit einem milden Friedensvertrag rechnen könnten.
Als dann der Vertrag von Sevres vorgelegt wurde, in dem nicht nur die europäischen und arabischen Besitzungen des Osmanischen Reiches, sondern auch das anatolische Kernland fast vollständig unter den Siegern aufgeteilt wurde, sah sich die Unabhängigkeitsbewegung bestätigt. Viele der für die Armenier-Massaker Verantwortlichen kämpften bereits in den Reihen der Befreiungsbewegung. Nach erfolgreichem Unabhängigkeitskrieg war man dann umso weniger gewillt, ein Schuldeingeständnis abzulegen. Vielmehr schienen die Kämpfe um Anatolien als Kernland des neuen türkischen Staates wie eine nachträgliche Rechtfertigung für die Vertreibung und die Massaker an den Armeniern zuvor.
Territorialkampf zweier nationalistischer Bewegungen
Taner Akcam rechtfertigt die türkische Haltung nicht – er besteht im Gegenteil darauf, dass die Jungtürken die Ermordung und Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Anatolien geplant durchgeführt haben –, aber er erklärt auch, wie es dazu kam. Anders als der Holocaust an den Juden war die Ermordung der Armenier Teil des Kampfes einer nationalistischen Bewegung, die mit einer anderen nationalistischen Bewegung um ein bestimmtes Territorium konkurrierte. Dieser Aspekt wird in der Türkei selbst naturgemäß in den Vordergrund gestellt: Die damalige Reichsregierung unter dem Triumvirat Talat, Enver und Cemal Pascha habe auf armenische Aufstände lediglich reagiert.
Überreagiert vielleicht, unverhältnismäßig brutal vielleicht auch, aber doch mit gutem Grund reagiert. Diese Selbstgewissheit wird nun aber zunehmend auch in der Türkei selbst in Frage gestellt. Prominentester Dissident ist der Schriftsteller Orhan Pamuk, der durch seine Feststellung in einem Interview mit einer Schweizer Zeitung, damals seien eine Million Armenier ermordet worden, heftige Gegenreaktionen hervorgerufen hat. Nationalistische Vereine protestieren lauthals, ein Landrat hat gar angeordnet, seine Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken des Landkreises zu entfernen, nur um dann festzustellen, dass dort ohnehin kein Exemplar eines Orhan-Pamuk-Buches vorhanden war. Auf der anderen Seite macht die größte Tageszeitung "Hürriyet" derzeit eine Serie "Was geschah 1915?", in der sie neben den Apologeten der offiziellen Position auch den bekanntesten Kritiker derselben zu Wort kommen ließ.
Professor Halil Berktay von der renommierten Sabance Universität konnte in einem langen Interview erläutern, warum die Massaker keine Selbstverteidigung des Osmanischen Reiches, sondern eine geplante Aktion zur Vertreibung und Vernichtung der Armenier in Ostanatolien waren. Halil Berktay benutzt dabei den Begriff "ethnische Säuberungen" und nicht "Völkermord".
Beide Begriffe wurden erst lange nach der Ermordung der Armenier in Anatolien geprägt und definiert. Es wäre tragisch, wenn nun im Streit um den richtigen Begriff erste Ansätze zu einer Verständigung wieder verschüttet würden.
Jürgen Gottschlich
© Qantara.de 2005
Taner Akçam: Armenien und der Völkermord Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung 430 Seiten. Englische Broschur € 16.-, September 2004