Auf dem Weg zur Regionalmacht

Liebäugeln mit der Unterstützung nationalistischer Kreis: Erdogan mit dem MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli
Liebäugeln mit der Unterstützung nationalistischer Kreis: Erdogan mit dem MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli

Die Türkei wendet sich verstärkt nach Zentralasien und intensiviert ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen zu den Turkstaaten. Welches sind die Triebkräfte der türkischen Zentralasienpolitik? Welche Rolle spielt die Idee des Panturkismus? Eine Analyse von Yaşar Aydın 

Von Yasar Aydin

Zentralasien steht zunehmend im Fokus türkischer Außen- und Wirtschaftspolitik. Das zeigt sich an den vielen Reisen hochrangiger Politiker und Offiziere in die Turkstaaten, den wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen und an der Institutionalisierung von bi- und multilateralen Beziehungen. Durch multilaterale Kooperationen schwingt sich die Türkei zu einem Machtfaktor in Eurasien auf. 

"Wir sind die Äste einer riesigen Platane, die Arme eines starken Stammes": Mit diesen pathetischen Worten brachte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu das Verhältnis der Türkei zu Asien zum Ausdruck. Bei der Eröffnung der elften türkischen Botschafterkonferenz 2019 verkündete er die diplomatische Initiative "Asia Anew" und stellte deren Stoßrichtung vor: Die Türkei solle als "Brückenland" zwischen Asien und Europa und als "eurasischer Akteur" fungieren. 

Asien gewinnt für die Türkei an Gewicht und damit auch Handel und Diplomatie mit den zentralasiatischen Turkstaaten sowie der wechselseitige Tourismus. Technologietransfer und Energieexporte in die Türkei wachsen stetig. Vor allem mit Zentralasien ist die Türkei historisch, kulturell, ethnisch und religiös verbunden – dort haben die türkische Geschichte und Identität ihren Ursprung. So erkannte Ankara nach dem Zerfall der Sowjetunion die Unabhängigkeit der Turkstaaten unverzüglich an und unterstützte sie bei der Staatsbildung.

Die Türkei baute die bilateralen Beziehungen zu den postsowjetischen Staaten aus und unterstützte ihre Eingliederung in die internationalen Organisationen OECD und OSZE. Auch stand Ankara ihnen mit TİKA, dem "Türkischen Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination" zur Seite. 

Bereits im Jahr 1992 versammelten sich Vertreter aller Turkstaaten zu einem Gipfel in der Türkei, aus dem die "Politische Deklaration von Ankara“ hervorging. Darin wurde der Wunsch geäußert, eine "Gemeinschaft der Turkvölker“ zu bilden und eine "Union unabhängiger Turkstaaten“ zu gründen. 2009 schließlich wurde der "Türkische Rat“ aus der Taufe gehoben, 2021 in "Organisation Türkischer Staaten“ (OTS) umbenannt, organisatorisch ausgebaut und finanziell aufgestockt.

Erdogan in Baku bei der Feier des Sieges von Aserbeidschan über Armenien im Konflikt um Bergkarabch 2020; Foto: Alexej Kudenko/dpa/picture-alliance
Erdogan feiert 2020 den Sieg Aserbeidschans über Armenien in Baku: Unterstützt von der Türkei konnte sich das Land militärisch gegen Armenien durchsetzen und eroberte sein armenisch besetztes Gebiet in Bergkarabach zurück.  Mit einem »Vorposten in Aserbaidschan« schaffe sich die Türkei Voraussetzungen dafür, so der französische Historiker Igor Delanoë, »ihren Einfluss auf die turksprachigen Regionen Zentralasiens noch wirksamer auszuweiten«. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Aserbaidschan und Armenien enthält auch eine Vereinbarung zur Schaffung des Zangesur-Korridors, der die Türkei mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet. Dieser Korridor verschafft der Türkei einen Zugang zum Kaspischen Meer und seinen wertvollen Offshore-Gasvorkommen, die dann an Russland vorbei nach Europa geliefert werden können.

Ein neuer Machtfaktor in Eurasien: die "Türkische Welt"

Fünf Mitgliedstaaten gehören zur OTS: die Türkei, Aserbaidschan, Usbekistan, Kasachstan und Kirgisistan. Ungarn und Turkmenistan sind als Beobachter Teil der Organisation. 2020 beantragte die Ukraine, 2021 Afghanistan ebenfalls einen Status als Beobachter. Die Mitgliedsstaaten mit ihren über 150 Millionen Menschen erwirtschaften insgesamt ein Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 1,1 Billionen US-Dollar. Ungarn und Turkmenistan mit ihrer Bevölkerung von 9,7 bzw. 5,85 Millionen kommen auf 176 bzw. 54 Milliarden US-Dollar pro Jahr. 

Nach Angaben des türkischen Außenministeriums sind über 4.000 türkische Unternehmen in der Region Zentralasien tätig. In Kasachstan sind zahlreiche türkische Unternehmen im Nahrungs- und Bausektor, der Chemie- und Pharmaindustrie sowie im verarbeitenden Gewerbe engagiert. Allein in Kasachstan haben türkische Baufirmen rund 21 Milliarden US-Dollar investiert. Damit gehört die Türkei zu den größten Investoren in Kasachstan, außerhalb des Energiesektors liegt die Türkei unter den ausländischen Investoren damit an vierter Stelle. Der Handel zwischen der Türkei und zentralasiatischen Turkstaaten belief sich 2019 auf 6,6 Milliarden, im Corona-Jahr 2020 immerhin noch 6,2 Milliarden US-Dollar. 

Die Staaten der OTS sind nicht nur wirtschaftlich und politisch miteinander verwoben, sie wachsen auch gesellschaftlich zu einer "Türkischen Welt“ mit einer supranationalen Identität zusammen, während Tourismus und Migration das transnationale Zusammenwachsen fördern.

In der Türkei leben zahlreiche Angehörige zentralasiatischer Turkstaaten. Laut der türkischen Statistikbehörde TÜİK lebten 2020 mehr als 90.000 Turkmenen, rund 35.000 Usbeken, mehr als 20.000 Kasachsen und 18.000 Kirgisen in der Türkei. Umgekehrt leben in Kasachstan rund 20.000, in Kirgistan 10.000, in Usbekistan 2.000 und in Turkmenistan 3.500 türkische Staatsbürger. In den Jahren 2018 und 2019 besuchten insgesamt mehr als eine Million Staatsbürger zentralasiatischer Turkstaaten die Türkei

Ein übergeordnetes supranationales Bewusstsein ist im Entstehen – auf Zentralasien wird nicht mehr nur mit der Bezeichnung "zentralasiatische Staaten“ Bezug genommen, sondern der Begriff "Turkestan“ – wie im 19. Jahrhundert vor der russischen Expansion – findet wieder breite Verwendung. In Analogie zu der Redewendung "Eine Nation, zwei Staaten“, mit der das innige Verhältnis zwischen der Türkei und Aserbaidschan betont wird, greift die Redewendung "Eine Nation, sechs Staaten" um sich.

Almaty die größte Stadt Kasachstans; Foto: picture-alliance/dpa/P.Smolka
Wichtige Märkte für die türkische Wirtschaft: Ein zentraler Platz in Almaty, der größten Stadt Kasachstans. Nach Angaben des türkischen Außenministeriums sind über 4.000 türkische Unternehmen in den zentralasiatischen Turkstaaten tätig. In Kasachstan sind zahlreiche türkische Unternehmen im Nahrungs- und Bausektor, der Chemie- und Pharmaindustrie sowie im verarbeitenden Gewerbe engagiert. Allein in Kasachstan haben türkische Baufirmen rund 21 Milliarden US-Dollar investiert. Damit gehört die Türkei zu den größten Investoren in Kasachstan, außerhalb des Energiesektors liegen die Türkei unter den ausländischen Investoren damit an vierter Stelle. Der Handel zwischen der Türkei und zentralasiatischen Turkstaaten belief sich 2019 auf 6,6 Milliarden, im Corona-Jahr 2020 immerhin noch 6,2 Milliarden US-Dollar. 



Zwei weitere Entwicklungen zeigen, dass sich die OTS allmählich zu einem geopolitischen Machtfaktor in Eurasien entwickelt. Im Jahr 2018 unterstützten die OTS-Mitgliedstaaten die türkische Militäroperation "Friedensquelle“ in Nordsyrien mit einer gemeinsamen Erklärung. 2020 setzte sich Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei, militärisch gegen Armenien durch und eroberte sein armenisch besetztes Gebiet in Bergkarabach zurück.  

Mit einem "Vorposten in Aserbaidschan" schaffe sich die Türkei Voraussetzungen dafür, so der französische Historiker Igor Delanoë, "ihren Einfluss auf die turksprachigen Regionen Zentralasiens noch wirksamer auszuweiten". Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Aserbaidschan und Armenien enthält auch eine Vereinbarung zur Schaffung des Zangesur-Korridors, der die Türkei mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet. Dieser Korridor verschafft der Türkei einen Zugang zum Kaspischen Meer und seinen wertvollen Offshore-Gasvorkommen, die dann an Russland vorbei nach Europa geliefert werden können.

Panturkismus oder Pragmatismus? 

Die Türkei hat sich zu einem wichtigen Wirtschaftspartner für die zentralasiatischen Staaten entwickelt. Ethnische und kulturelle Gemeinsamkeiten, die Zugehörigkeit zur selben Sprachgruppe und eine ähnliche Mentalität helfen türkischen Unternehmern, in Zentralasien Fuß zu fassen. Lässt sich Erdogans Zentralasienpolitik von der Idee einer nationalistischen Geopolitik, dem Panturkismus, leiten? 

Der Panturkismus will die turksprachigen Völker unter der Führung der Türkei vereinen. Zusammen mit der Idee einer türkischen Union besitzt er enorme Anziehungskraft für große Teile der türkischen Bevölkerung und kommt insbesondere bei Europaskeptikern und EU-Enttäuschten gut an. Die nationalistische MHP, die Partei der Nationalen Bewegung, die in der Tradition eines geopolitischen Panturkismus und türkischen Irredentismus (die Vorstellung von "unerlösten Gebieten“, die zur Türkei gehören, Anm. der Red.) steht, ist Teil der Volksallianz, des von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan geführten Regierungsblocks. 

Doch gegen die Panturkismus-These lassen sich zwei Argumente anführen: Erstens hat Zentralasien bereits vor Erdogans Regierung der Volksallianz und seiner Tuchfühlung mit den linksnationalen Verfechtern einer Eurasien-Politik eine Aufwertung in der türkischen Außenpolitik erfahren – TİKA wurde 1992, der Kooperationsrat Turksprachiger Staaten 2009, das YTB (Amt für Auslandstürken) 2010 gegründet.

Außerdem entsprechen die OTS und die angestrebte Wirtschaftsunion nicht der Idee einer "Großtürkischen Gemeinschaft“ bzw. einer politischen Vereinigung aller Turkvölker zu einem Territorialstaat bzw. einer Konföderation "Turan“, wie sie von Panturkisten vertreten wird.

Yasar Aydin; Foto: privat
Dr. Yasar Aydin ist Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und affiliated Senior Researcher des Foreign Policy Institute an der Middle East Technical University Ankara. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Migration, Internationale Beziehungen, Geopolitik, deutsche Außenpolitik und die Türkei. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Türkei“, Wochenschau Verlag 2017. 

Gleichwohl liebäugelt die Panturkismus-Rhetorik mit der Zustimmung von ultranationalistischen Kräften in der Türkei, was zeitweilig von Medien außerhalb der Türkei kritisch aufgegriffen wird. Außerdem sollte der Einfluss panturkistischer Kreise auf die türkische Außenpolitik nicht überschätzt werden. 

Geostrategische Interessen in einer multipolaren Welt

Die Hinwendung zu Zentralasien ist vielmehr von geoökonomischen Interessen geleitet: die Erschließung neuer Märkte, die Sicherung von Energiequellen und das Anlocken ausländischen Investoren sowie geo- und sicherheitspolitische Erwägungen stehen letztlich im Vordergrund.

Der türkischen Außen- und Zentralasienpolitik geht es vor allem darum, den Einfluss von Regional- und Großmächte auszubalancieren, Sicherheitsrisiken zu bekämpfen, für die Türkei den Status einer Regionalmacht zu sichern und sie zu befähigen, in der Weltpolitik mitzumischen. 

Der globale machtpolitische Kontext kann dazu beitragen, die türkische Zentralasienpolitik differenziert zu sehen. Der Strukturwandel im internationalen geopolitischen System – die Entstehung einer multipolaren Welt und die damit einhergehenden ökonomischen und geopolitischen Machtverschiebungen - liefern Ankara wichtige Impulse dafür, sich auf Zentralasien zu konzentrieren.  

Die Vereinigten Staaten reagieren auf diese ökonomischen und geopolitischen Machtverschiebungen – den Aufstieg Chinas und die Großmachtambitionen Russlands – mit einer Doppelstrategie: Sie versuchen erstens Russland in Osteuropa und im Nahen Osten, China im Südchinesischen Meer einzukreisen und die Macht beider Konkurrenten so einzudämmen.  

Zweitens bemühen sie sich, ein anti-hegemoniales Bündnis aus China, Russland und dem Iran zu verhindern. Diese US-Strategie in einer multipolaren Welt stärkt die geopolitische Position der Türkei und erweitert ihren außenpolitischen Handlungsspielraum. Durch ihre bilaterale Kooperation mit Zentralasien will die Türkei ihren Ansprüchen als regionaler Gestaltungsmacht auch diplomatisch Nachdruck verleihen.  

Die Hinwendung der Türkei zu Zentralasien und die multilateralen Kooperationen mit den Turkstaaten sind von pragmatischen ökonomischen und geostrategischen Motiven geleitet. Der Türkei geht es darum, mehr Autonomie gegenüber dem Westen zu gewinnen, regional ihren Einfluss auszubauen und ein Gegengewicht zu den Großmächten Russland und China sowie den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien aufzubauen. Kurz: Es geht um Mitsprache in der Regional- und Weltpolitik. 

Yasar Aydin 

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