Ein antifeministisches Manifest
Ein leerer Stuhl, minutenlanger Applaus und ein Preis – das ist mittlerweile fester Bestandteil jedes europäischen A-Filmfestivals, dem der iranische Regisseur Jafar Panahi ein frisch gedrehtes Werk via spektakulärer Schmuggelaktion zuschickt. Nach demselben Muster lief der Film "Drei Gesichter" im Mai 2018 auch im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes und gewann den Preis für das beste Drehbuch. Es ist bereits der vierte Film Panahis, nachdem dieser 2010 vom Mullah-Regime zu einem 20-jährigen Berufs- und Reiseverbot verurteilt wurde.
In "Drei Gesichter" setzt sich Panahi wie in seinem erfolgreichen Film "Taxi" (Goldener Bär – Berlinale 2015) wieder ans Steuer. Diesmal, um das Geheimnis eines Handyvideos zu lüften, das er über Social Media erhalten hat. Adressatin des Videos ist eigentlich die populäre Film- und TV-Schauspielerin Behnaz Jafari: Ein verzweifeltes Mädchen namens Marziyeh (Marziyeh Rezaie) aus der nordwestiranischen Bergregion wirft Jafari vor, ihr trotz zahlreicher Bitten nicht geholfen zu haben, Schauspielerin zu werden.
Das Mädchen behauptet, dass sie ihre Eltern hätte überzeugen können, ihr den Besuch einer Schauspielschule in Teheran zu erlauben. Doch nun haben ihre Eltern sie gezwungen, zu heiraten und damit ihre große Leidenschaft aufzugeben. So sieht sie keinen anderen Ausweg mehr, als sich umzubringen. Am Ende des Videos erhängt sich die verzweifelte junge Frau.
Echt oder fake? Auf der Suche nach einer klaren Antwort machen sich Panahi und Jafari auf den Weg in die Gebirge Aserbaidschans. Die Locations sind zugleich die Geburtsorte der Eltern und Großeltern des Regisseurs.
Das vergessene vierte Gesicht
Auch die Protagonistinnen spielen sich selbst: Marziyeh Rezaie, Behnaz Jafari und Shahrzad. Shahrzads Gesicht bekommt man aber nie zu sehen. Denn sie spielte vor der iranischen Revolution von 1979 in den Filmen von bekannten Regisseuren wie Massud Kymiai Tänzerinnen oder Prostituierte.
Weil unter dem heutigen Mullah-Regime öffentliches Tanzen und Singen für Frauen verboten sind, sieht man sie nur als Schatten hinter einem Vorhang, um ihre Identität nicht preiszugeben.
Es gibt noch eine bekannte Frau im Film, deren Namen Panahi nicht in dessen Titel integriert hat: Die Regisseurin Manijeh Hekmat. Seit den 1980er Jahren ist sie als Filmemacherin und Produzentin im Filmgeschäft erfolgreich. 2002 drehte sie ihren ersten Spielfilm "Women's Prison". Der Film wurde auf über 80 internationalen Filmfestivals gezeigt und erhielt sieben Preise.
In "Drei Gesichter" hören wir nur Hekmats Stimme, obwohl sie als Vermittlerin eine wichtige Rolle spielt. Ohne sie hätte Panahi nämlich die Schauspielerin Jafari nicht ausfindig machen können:
Hekmat hat Kontakt zu Jafari, weil sie gerade mit ihr als Hauptdarstellerin die letzten Sequenzen ihres neuen Films dreht. Hekmat ist später restlos enttäuscht, als Jafari am letzten Drehtag nicht wie geplant am Drehort auftaucht, ohne ihr davon Bescheid zu geben. Denn am selben Tag ist die Schauspielerin, geplagt von ihrem schlechten Gewissen, mit Panahi nach Aserbaidschan unterwegs.
"Mutige und selbstbewusste Frauen"?
"Drei Gesichter" beginn mit dem Aufbruch zweier ungleichberechtigter Cineasten auf der Suche nach der Wahrheit. Der Regisseur Panahi versucht in dem Film zum ersten Mal, den ungleichen und diskriminierenden Umgang mit weiblichen Filmschaffenden in der Gesellschaft zu thematisieren und anzuprangern.
Daher erhielt er viel Applaus von den westlichen Kritikern, die seinen Film als "ein stilles feministisches Manifest" (Kino Zeit) sahen. Denn er habe "die Frauen der drei Generationen mutig und selbstbewusst" (Filmstar) dargestellt.
Wenn man aber die Charaktere der Protagonistinnen analysiert, stellt man fest, dass Panahi lediglich religiös-patriarchalisch geprägte Vorurteile gegen Frauen bestätigt und sie durchgehend als schwach, hysterisch, grausam, unlogisch, zu emotional und tückisch darstellt. Der Regisseur ist hingegen als Hauptdarsteller mit seinen wegweisenden Ideen, reichen Erfahrungen und klugen Ratschlägen allen Frauen überlegen.
Versierte Schauspielerin als gewalttätiges Schulmädchen
Die Protagonistin Jafari ist ein eklatantes Beispiel dafür. Ihr Charakter ist so konzipiert, dass sie weder eigenständig denken noch handeln kann. Ihre Dialoge beginnen fast immer mit Sätzen wie: "Was machen wir jetzt, Herr Panahi? Sollen wir gehen, Herr Panahi? Ist das Video echt, Herr Panahi?" Obwohl sie in mehr als 40 Spielfilmen und 30 TV-Serien mitgespielt hat, ist sie nicht in der Lage, die verschiedenen Schnitt-Techniken voneinander zu unterscheiden. So kann Panahi sie mit einem einzigen Satz überzeugen, die Reise anzutreten: "Der Endschnitt des Videos ist perfekt; also ist es echt." Keine Einwände.
Dazu kann Jafari generell keine selbständigen Entscheidungen treffen. Das einzige Mal, als sie souverän handelt, verwandelt sie sich in eine brutale, gewalttätige und kaltblütige Frau, die nur von einer blinden Wut gesteuert wird: Nachdem Jafari erfährt, dass das Video doch ein Fake ist und Marziyeh noch in einem Versteck lebt (weil sie den Vergeltungsschlag ihres Bruders fürchtet), macht sie sie ausfindig, greift das schutzlose Mädchen wie ein wildes Tier an und prügelt sie minutenlang fast zu Tode, ohne von ihren Erklärungen, ihrem Bitten und Flehen beeindruckt zu sein.
Damit erledigt sie freiwillig die selbst gestellte Aufgabe des rachsüchtigen Bruders Marziyehs, der seine Schwester züchtigen will. Der zügellose Eingriff Jafaris, der vor den Augen Panahis geschieht, wird stillschweigend von ihm gebilligt. Schließlich hat das Mädchen beide mit List und Tücke ins Gebirge gelockt.
Panahi sorgt im Drehbuch dafür, dass Manijeh Hekmat Jafari als ihre Hauptdarstellerin ebenfalls als labile Frau zeigt. Sie nennt die Schauspielerin respektlos "die durchgeknallte Frau", statt ihren Namen zu sagen und lästert über sie in einem Telefongespräch mit Panahi, weil sie Hekmat und ihren Filmstab im Stich gelassen habe.
Auch hier beschwichtigt der Regisseur die aufgeregte Kollegin und löst ihr Problem, indem er der erfahrenen Regisseurin anrät, die übriggebliebenen Sequenzen zu drehen.
Das Fehlen eines reflektierten Blicks
"Drei Gesichter" ist ein Essayfilm, der mit einem unreflektierten ethnologischen Blick Sitten, Bräuche, Glauben und Aberglauben der Menschen in der Bergregion Aserbaidschans untersucht und cineastisch bewusst auf die Tradition vom Cinema Verité des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami aus Filmen wie "Der Wind wird uns tragen" aufbaut.
Dabei werden die vier Protagonistinnen Opfer eines Drehbuchs, das zu stark auf ein ohnehin wackeliges Konzept und zu wenig auf eine differenzierte Charakterisierung der Frauenfiguren getrimmt ist. So untermauert Panahi die Klischeebilder der Frauen, statt ihnen ein Denkmal zu setzen.
Es ist klar, dass die begrenzten Möglichkeiten, die sich aus dem Berufsverbot Panahis ergeben, sowie die Repressalien der islamischen Regierung den mutigen Regisseur daran hindern, brillante Filme wie "Circle" zu produzieren. "Drei Gesichter" leidet aber an einem größeren Mangel: dem Fehlen eines reflektierten und zutiefst gleichberechtigten Blicks auf die Beziehung zwischen Mann und Frau – auch im Filmgeschäft.
Fahimeh Farsaie
© Iran Journal 2018