Erdoğans größte Herausforderung
Für den türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan war es der achte Wahlerfolg und er schmeckte besonders süß. Dies lag nicht nur daran, dass sein Sieg bei den Kommunalwahlen im März auf eine Welle von Korruptionsvorwürfen folgte, in die auch hochrangige Regierungsmitglieder involviert waren. Der Wahlerfolg öffnete ihm auch die Tür für eine Kandidatur für die im August anstehenden Präsidentschaftswahlen, glaubt Cengiz Aktar vom "Istanbul Policy Center" an der Sabancı Universität.
"Erdoğan schwelgt nicht nur in seinem Wahlsieg, sondern ist auch der Ansicht, dass er durch diesen Erfolg von allen zuvor erhobenen Anschuldigungen reingewaschen hat. Deshalb sieht er auch keinen Grund mehr, weshalb er nicht bei der Präsidentschaftswahl antreten sollte. Damit würde aus dem politischen System der Türkei ein präsidentielles System, das ein wenig demjenigen Putins in Russland ähneln würde – ohne jedwede demokratische Kontrollmechanismen. Dies wird die ohnehin bestehenden Spannungen vertiefen, die Gegensätze und die Polarisierung der Gesellschaft", meint der Politikexperte Aktar.
Mag Erdoğan auch bisweilen wirken wie ein politischer Alchemist, dem es gelingt, die gesellschaftliche Polarisierung in einen Wahlsieg umzumünzen, so stellt die Wahl im August doch eine ganz besondere Herausforderung für ihn da. Selbst vor dem Hintergrund einer noch immer boomenden Wirtschaft und einer schwachen Opposition schaffte Erdoğans AKP nicht den Sprung über die 50-Prozent-Marke.
Den Zenit hatte Erdoğan bei den letzten Parlamentswahlen erreicht. Seitdem aber hat sein Ruf doch erheblich gelitten. Die Wirtschaft hat sich merklich abgeschwächt, im letzten Sommer gab es eine Welle von regierungskritischen Protesten und danach wurden Vorwürfe laut, dass ranghohe Mitglieder der Regierung in Vetternwirtschaft und Amtsmissbrauch verwickelt sein sollen, was schließlich auch zur Sperrung von sozialen Netzwerken führte.
Gesellschaftliche Spaltung überwinden
Die Opposition ihrerseits richtet all ihre Hoffnung auf diese für die AKP negativen Entwicklungen. Sie glaubt, dass die kommende Präsidentschaftswahl die bisher beste Gelegenheit bietet, Erdoğan zu besiegen. "Wir wollen einen Präsidentschaftskandidaten, der wirklich über den Parteien steht, um sich den Respekt aller Gruppen unserer Gesellschaft zu verdienen", sagt Rıza Türmen, Parlaments-Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP, der "Republikanischen Volkspartei". "Das muss ein Präsident sein, der in der Lage ist, die gegenwärtige Spaltung der Gesellschaft zu überwinden."
Türmen bestätigt, dass seine Partei offen ist für Gespräche mit anderen Parteien bezüglich der Aufstellung eines gemeinsamen Kandidaten. "Ich denke, dass es sehr hilfreich sein könnte, sich gemeinsam auf einen Kandidaten zu verständigen. Warum nicht?"
Doch schon die ersten Hoffnungen auf eine Wahlallianz der Opposition erfuhren jüngst einen empfindlichen Dämpfer, als Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP, forderte, dass jeder Kandidat für die Präsidentschaftswahl eine Fremdsprache beherrschen müsse. Dies wurde wiederum von Devlet Bahceli, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten MHP ("Partei der Nationalistischen Bewegung") schroff zurückgewiesen. Die Vorstellung eines türkischen Präsidenten Erdoğan aber scheint für die Opposition derart furchterregend zu sein, dass Bahceli – trotz dieser Vorbehalte – eine Tür für Gespräche offen lässt. "Unabhängig von seinen politischen Ansichten, seiner Weltsicht, Ideologie oder seines Geburtsortes, und egal, ob er der AKP, MHP oder CHP angehört, wäre jeder besser als Erdoğan als neuer Präsident", schmetterte Bahceli jüngst seinen Anhängern entgegen.
Suche nach dem geeigneten Gegenkandidaten
Türkische Medien und politische Insider rätseln indes, wer als Kandidat in Frage käme, hinter dem sich alle Oppositionsparteien stellen könnten, um den amtierenden Premier herauszufordern. "Die Paranoia, die diese Gerüchte hervorrufen, lähmt die AKP zunehmend", behauptet die Kolumnistin Aslı Aydıntaşbaş von der Tageszeitung "Milliyet". "In der AKP kursiert etwa das Gerücht, dass möglicherweise der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Haşim Kılıç, gegen Erdoğan antreten könnte."
Kılıç, der einen religiösen Hintergrund hat, galt früher als einflussreicher Verbündeter der im politischen Islam verwurzelten AKP im Verfassungsgericht. Er war es auch, der die AKP im Jahr 2008 vor der Auflösung bewahrte, als die Partei nur um Haaresbreite eine Niederlage in einem Prozess abwenden konnte, bei dem es darum ging, ob die AKP den säkularen Staat gefährde. Doch in den vergangenen Wochen fügte das Verfassungsgericht der Regierung einige empfindliche Niederlagen zu, darunter auch durch die Entscheidung, die Sperrung des Kurznachrichtendienstes Twitter wieder aufzuheben.
Der Premier, der umgehend eine politische Gefahr witterte, griff umgehend sowohl das Gericht, als auch Kılıç persönlich an. "Jeder sollte die Grenzen seiner Autorität kennen", rief Erdoğan seinen Anhängern vor Kurzem bei einer Wahlveranstaltung in Istanbul zu. "Wenn diese Leute Politik machen wollen, sollen sie es tun – aber erst, wenn sie ihre Richterroben abgelegt haben!"
Kılıç seinerseits lehnte es ab, die Spekulationen über seine mögliche Kandidatur zu kommentieren, kritisierte aber Erdoğans Kritik am Verfassungsgericht als "emotional übertrieben".
Die Kurden als Zünglein an der Waage
Da die beiden politischen Lager, in die die Türkei gegenwärtig gespalten ist, in Bezug auf die zu erwartenden Wählerstimmen etwa gleich groß sein dürften, ist im kommenden August mit einem sehr knappen Wahlausgang zu rechnen. "Vieles wird wohl von den Stimmen der kurdischen Wähler abhängen. Sie werden maßgeblich mitentscheiden, wer der nächste Präsident wird", meint die Kolumnistin Aydıntaşbaş. "Wenn es darauf ankommt und sie Zusicherungen in Bezug auf den laufenden Friedensprozess erhalten, werden sie wohl für Erdoğan stimmen. Ich sehen keinen Grund, weshalb sie das nicht tun sollten."
Vor drei Jahren setzte Erdoğan einen Friedensprozess in Gang, um den seit drei Jahrzehnten schwelenden Konflikt mit der türkischen Rebellenorganisation PKK zu beenden. Auch wenn hierbei bisher wenige greifbare Ergebnisse erzielt werden konnten, wiederholte der seit 1999 im Gefängnis einsitzende Kurdenführer Abdullah Öcalan in einer – anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes – verlesenen Erklärung seine Unterstützung für den Friedensprozess.
Die beiden pro-kurdischen Parteien BDP und HDP, von denen der letzteren enge Verbindungen zur PKK nachgesagt werden, könnten gemeinsam auf etwa 6 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen kommen, was von vielen Experten als ausreichend angesehen wird, um Erdoğan den Sieg bei den Wahlen zu bringen.
Dennoch sieht die Politikwissenschaftlerin Nuray Mert von der Istanbul Universität eine solche Allianz als umstritten an: "Erst einmal wäre es ein Widerspruch an sich: den Kurden mehr Rechte einzuräumen, während Rechte und Freiheiten für den Rest der Gesellschaft beschnitten werden. Zweitens würde es aber zukünftig auch bei den Kurden selbst als problematisch angesehen werden."
Die Vorsitzenden der BDP und HDP waren bisher beflissentlich darum bemüht, eine etwaige Unterstützung Erdoğans weder zu bestätigen noch zu dementieren. Jede öffentliche Unterstützung für den amtierenden Ministerpräsidenten stellt bislang eher ein Problem dar. "Um die Unterstützung der Kurden zu gewinnen, muss Erdoğan ihren Forderungen entgegenkommen. Tut er dies, riskiert er seinen Rückhalt im nationalistischen Lager zu verlieren, das traditionell eine wichtige Stütze seiner Wählerbasis darstellt", sagt Sinan Ülgen, Gastforscher am "Carnegie Institute" in Brüssel. "In dieser Zwickmühle befindet sich jedoch zweifelsohne auch sein Gegenkandidat."
Seit zwei Jahrzehnten hat Erdoğan keine Wahl mehr verloren – ein Phänomen, das in der türkischen Politik bislang einmalig ist. Gleichzeitig ist er aber auch der am stärksten polarisierende Politiker, was bedeutet, dass, sollte er sich tatsächlich als Präsidentschaftskandidat aufstellen, er vor einer der bislang härtesten Herausforderungen stünde. "Schnallen Sie sich für alle Fälle lieber alle gut an! Wir werden eine noch angespanntere, noch polarisierendere Zeit erleben", warnt denn auch Soli Özel Professor für Internationale Beziehungen von der "Kadir Has Universität" in Istanbul.
Dorian Jones
© Qantara.de 2014
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de