Harte Zeiten für den "Meister des politischen Islam"
In letzter Zeit wiesen viele Islamexperten auf einen weiteren Schlag ins Kontor des politischen Islam hin, und diesmal einen schweren: Die Türkei und ihre Regierungspartei AKP ("Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung") stehe bereits seit einiger Zeit in einer tiefen Krise und es scheint, als würde sie sich täglich noch weiter verschärfen. Als "Meister des politischen Islam" war die Türkei lange Zeit Vorbild und Inspirationsquelle für andere islamisch geprägte Länder, was darauf zurückzuführen ist, dass es ihr scheinbar gelang, Religiosität und Moderne miteinander zu vereinbaren. Doch diesen Vorbildcharakter hat die Türkei längst eingebüßt.
Über die Jahre wurde in der türkischen Politik eine gleich dreifache Diskrepanz sichtbar – und zwar im Bereich der Außenpolitik ebenso wie in Bezug auf die demokratische Glaubwürdigkeit im Inneren und schließlich im Hinblick auf lange übersehene Mängel in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Obwohl die Türkei ökonomisch gesehen noch immer in einer besseren Verfassung als viele andere islamische Staaten ist, strahlt das Land bei weitem nicht mehr so hell wie zu Beginn der Ära Erdoğan.
Die mangelnde Erfahrung, große Visionen und politische Werte mit den Erfordernissen der Realpolitik in Einklang zu bringen, mündete in purem Konfessionalismus gegenüber den Nachbarstaaten. Hinzu kam, dass ein übersteigertes Selbstbewusstsein den Fokus von strategischen Bündnissen (der angestrebten EU-Mitgliedschaft und der NATO) wegführte – hin zu globalen Träumereien, wie sie sich in der angedachten Mitgliedschaft in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit ebenso zeigte wie beim Kauf von chinesischen Raketensystemen, die mit der NATO-Ausrüstung des Landes technisch unvereinbar sind.
Alle Macht der Staatsmacht
In der Türkei gewann die AKP eine Wahl nach der anderen, ihr unangefochtener Führer Recep Tayyip Erdoğan sonnte sich genauso wie seine Partei im Glanz einer schier unbegrenzten Machtfülle, die durch die Erosion der noch verbliebenen checks and balances auf allen Ebenen der staatlichen Bürokratie nur noch vollkommener zu werden schien.
Die Macht der demokratischen Mehrheit wurde derart zur Ursache wie zur Folge der Macht des politischen Islam. Dies bedeutet, dass sich die Türkei heute, was die Demokratie und das rechtsstaatliche Prinzip anbetrifft, in die entgegensetzte Richtung bewegt, in die sie sich seit 2002, also seit dem EU-Beitrittsprozess, so erfolgreich aufgemacht hatte.
In Bezug auf die wirtschaftliche Leistung ist die Türkei niemals seine strukturellen Probleme angegangen, die deshalb immer wieder an die Oberfläche kommen und die Überwindung der Krise des Mittelstands behindern, in die das Land geraten ist. Die fast ausschließlich durch einen boomenden Massenkonsum und die Bauindustrie befeuerte türkische Wirtschaft hat ihre strukturellen Grenzen erreicht.
Um nun weiterzukommen, braucht es eine Reform des Arbeitsmarktes, des Steuersystems, aller Bildungsinstitutionen, aber auch eine Verstärkung der Anstrengungen im Bereich der Forschung und Entwicklung. In Ermangelung natürlicher Ressourcen und benachteiligt durch eine besonders niedrige Sparrate, befindet sich die türkische Wirtschaft heute in großen Schwierigkeiten, wenn es darum geht, ihr gegenwärtiges Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren.
Die negativen Effekte der anhaltenden politischen Instabilität verschlimmern die Situation, da nun auch noch die so dringend benötigten ausländischen Direktinvestitionen zunehmend ausbleiben.
Hausgemachte Probleme
All diese Probleme sind hausgemacht. Sie resultieren zum Großteil aus drei Faktoren: Erstens aus der zu langen Regierungszeit der AKP (insbesondere der Amtszeit Erdoğans, der sich von seiner Macht in einer Weise korrumpieren ließ, wie es schon Lord Acton im 19. Jahrhundert beschrieben hatte). Zum zweiten aus einem übertriebenen Selbstbewusstsein in der Folge des wirtschaftlichen Erfolges, einiger demokratischer Reformen und zahlreicher diplomatischer Aktivitäten. Drittens schließlich ist das wachsende Unvermögen Erdoğans zu nennen, seine andauernde politische "One-Man-Show" zu beenden und mehr auf "Teamwork" und Kooperation zu setzen. Alle diese Faktoren werden jedoch innerhalb der Türkei anders bewertet als im Ausland.
Dort ist die rigide anti-religiöse Haltung der traditionellen Elite wieder erkennbar, sobald die Schwächen der Regierung offensichtlich werden. Internationale Aufmerksamkeit hat dies gefunden, als etwa in einer französischen Zeitschrift das Versagen der AKP beleuchtet wurde. Dies ist umso wichtiger, da es sich in das Bild des politischen Islam nach dem Arabischen Frühling einfügt.
Zitieren wir die Worte der Journalistin Ariane Bonzon, die in dem erwähnten Artikel die Intellektuellen, die der AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit einen Vertrauensbonus einräumten, als "nützliche Idioten der Regierungspartei" bezeichnete. Und weiter: Diejenigen, die bereits 2002 vor einer geheimen Agenda der AKP warnten, hätten nun Recht behalten. Kurzum: Der Islam sei mit der Demokratie unvereinbar, so ihr Fazit.
Dieses pauschalisierende und klischeebeladene Denken wird durch die gegenwärtige Situation in der Türkei ebenso bestätigt wie durch die Schwierigkeiten der arabischen Umbruchstaaten. Das Zerrbild von der "Unvereinbarkeit von Islam und der Moderne", das bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, ist wieder in salonfähig geworden.
Im Westen werden heute der augenscheinlich chaotische Verlauf des Arabischen Frühlings und die gegenwärtig so armselige Performance des von Erdoğan geführten politischen Islam in der Türkei ins Feld geführt, um dieses Klischee wieder aufleben zu lassen. So wird dieses Urteil pauschal über alle muslimischen Länder verhängt, dabei ist es so anachronistisch wie irrational.
Steiniger Weg zur Demokratie
Zum Leidwesen derer, die bereits das Ende des politischen Islam feiern, werden die Muslime jedoch weiter nach Wegen suchen, um sich der Moderne zuzuwenden, ohne dabei ihre religiösen Überzeugungen zu verleugnen. Sie werden säkularer und sie werden lernen müssen, zusammenzuleben, ohne sich sporadisch immer wieder mit Gewalt zu begegnen. Auf dieser Suche nach Demokratie und politischer Identität wird der Islamismus wohl noch sehr lange eine gewichtige Rolle in der Region spielen.
Aber können wir im Fall der Türkei den politischen Islam so einfach ignorieren, nur weil wir dabei ständig Erdoğan und seine Anhänger vor Augen haben? Lässt sich verkennen, was seit 2002 tatsächlich alles erreicht wurde? Reicht es nur darauf zu verweisen, dass es dem Land bislang nicht gelungen ist, sich zu einer echten Demokratie zu entwickeln? Und wollen wir ernsthaft abstreiten, dass es die AKP war, der es gelang, der Bevormundung durch Jungtürken und Kemalisten einen Riegel vorzuschieben?
Jene, die den angeblichen Kollaps des politischen Islam bejubeln, sollten die Muslime bei ihrer Suche nach einer besseren Welt unterstützen – im Interesse aller.
Cengiz Aktar
© ResetDoc/Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol