Die endlose Weite umfassen
Die Musik der in der Sahara lebenden Kel Tamasheq, die bei uns meistens Tuareg genannt werden, scheint etwas Besonderes an sich zu haben, das Menschen auf der ganzen Welt anspricht. Seit den 1990er Jahren sind die "Gitarrenbands" der Region ein Ausdrucksmedium des Kampfes, den dieses Volk um sein kulturelles wie auch territoriales Überleben führen muss.
Die Geschichte des Nomadenvolks reicht mehr als tausend Jahre zurück. Die Aufsplitterung seines angestammten Territoriums auf die heutigen Nationalstaaten Algerien und Mali im Norden und Niger im Süden hat die Möglichkeiten, in einer der rauesten Landschaften der Erde ein Auskommen als Viehhirten zu finden, in starkem Maße eingeengt.
Durch Aufstände konnten die Kel Tamasheq im Lauf der Jahre verschiedene Regierungen zu gewissen Zugeständnissen bewegen. Der jüngste im Jahr 2012 hat ihnen aber keinerlei Gebietsgewinne verschafft, und seitdem sind ihre Kultur und ihre Lebensweise in mancher Hinsicht noch stärker gefährdet als zuvor.
Verfolgt im Namen des Islam
Denn ihre Bestrebungen, im Norden Malis ein eigenes Herrschaftsgebiet abzustecken, wurden nicht nur vereitelt, sondern auch von Kräften vereinnahmt, die andere Ziele verfolgten. Es gelang den Kel Tamasheq also nicht, sich das Territorium zu sichern, auf dem sie seit Jahrhunderten leben, und stattdessen versuchten reaktionäre religiöse Fanatiker, der Region ihre Vorstellungen einer islamischen Rechtsordnung aufzuzwingen.
Tuareg-Musiker waren zwar auch zuvor schon von Regierungen ins Visier genommen worden, doch jetzt ging man noch rigoroser gegen sie vor. Wer beim Musizieren erwischt wurde, dessen Instrumente wurden nun in jedem Fall zerstört, und womöglich wanderte er ins Gefängnis.
Diese Phase ist glücklicherweise vorüber, doch sind die Musiker weiterhin in Gefahr, denn blindwütige terroristische Anschläge auf sie und ihre Konzerte sind in Mali nach wie vor an der Tagesordnung. Wegen Sicherheitsbedenken ist denn auch das berühmte "Festival au Désert" – ein nahe Timbuktu stattfindendes Freiluftkonzert, im fünften Jahr in Folge abgesagt worden.
Trotz alledem bleibt die Musikszene lebendig, wie die Gruppe Tamikrest mit der Veröffentlichung ihrer neuesten CD "Kidal" beweist. Tamikrest zählt zur zweiten Generation von Tamasheq-Bands, die in die Fußstapfen von Vorgängern wie Tinariwen treten, deren Klangwelten ebenfalls ein globales Publikum faszinieren.
Zum Teil dürfte das an der Geschichte liegen, die sich mit der Musik und den Musikern verbindet – an der romantischen Aura von Liedern, die aus einem Volk kommen, das um die Bewahrung seiner Kultur und seiner Traditionen ringt.
Über Sprachgrenzen hinweg
Allerdings verstehen natürlich die wenigsten von uns, die wir nicht in der Sahararegion leben, Texte und Inhalte der Songs. Wir können uns kaum eine Vorstellung von dem machen, was die meisten Menschen dort derzeit zu erdulden haben. Dennoch spricht ihre Musik uns an und bringt etwas in uns zum Klingen. Beim Hören des Albums "Kidal", benannt nach der Stadt im nördlichen Mali, die die Band ihr Zuhause nennt, ist rasch zu spüren, wie diese Musik Sprachbarrieren überbrücken kann.
Musikalisch gesehen finden sich bei Tamikrest viele der typischen Merkmale, die zur großen Popularität von Bands aus der Region beigetragen haben, so zum Beispiel eine packende Synthese von E-Gitarre, Perkussion und Stimme, die ebenso eindrucksvoll klingt wie auf den Alben anderer Tamasheq-Gruppen. Tamikrest hat aber begonnen, den mittlerweile vertrauten Wüstenblues-Sound in ungewöhnliche Richtungen weiterzuentwickeln. Während der Einstiegstrack der CD, "Mawarniha Tartit", all die Elemente enthält, die wir von diesem Musikgenre bereits kennen und die sich hier in eine wunderschöne trancehafte Klangcollage zusammenfügen, geschieht im fünften Titel "Atwitas" etwas Neues.
Endlos, zeitlos
Nicht die einzelnen Elemente haben sich verändert. Entscheidend ist vielmehr, wie sie eingesetzt werden. Zunächst einmal ist das Tempo deutlich verlangsamt, vom Gesang des Frontmanns Ousmane Ag Mossa über die Gitarren, die er selbst, Paul Salvagnac und Cheick Ag Tiglia spielen, bis hin zum Schlagzeug von Nicolas Grupp. Es klingt, als versuche sich die Musik ins Zeitlose zu dehnen, um die endlose Weite und den sich fortwährend verschiebenden Horizont der Wüste zu umfassen.
Etwas am Sound und am Charakter dieses Songs erinnert in beinahe gespenstischer Weise an die britische Avantgarde-Band Pink Floyd, und zwar an die interessanteren frühen Werke der 1960er und 1970er Jahre. Vor allem im Gitarrenspiel von Tamikrest lassen sich deutliche Parallelen zum berühmten Album "Dark Side of the Moon" wiederfinden.
Die Vorstellung, dass psychedelische Musik der 1970er hier eine Verbindung mit Traditionen der Sahara eingeht, mag merkwürdig erscheinen, doch genau dies scheint Tamikrest zu gelingen. Das ist nicht nur ein Kompliment an die musikalischen Fähigkeiten der Band, sondern auch an ihre Bereitschaft, der Musik genügend Raum zu lassen, damit sie sich weiterentwickeln kann und nicht unter der Last von Traditionen oder Erwartungen zu stagnieren beginnt.
Der Kampf geht weiter
An manchen Dingen hält die Band natürlich auch fest. Die Texte drehen sich nach wie vor um die Themen, die für die Tuareg zentral sind. Im siebten Song, "War Tila Eridaran", singt Ag Mossa: "Meine Liebe ist mein Land / Meine Sehnsucht ist Freiheit", und später heißt es: "Kein Wesen soll rechtlos, ohne Würde und in ewiger Unterdrückung leben."
Die Band ist beim Einsatz von Effektboxen und vollem Schlagzeug-Set ganz auf der Höhe der Zeit, doch zugleich ist sie fest in der Tradition ihres Volkes verwurzelt und führt dessen Kampf fort.
Die malische Stadt Kidal ist seit Langem eines der kulturellen Hauptzentren der Tuareg und, in einer Welt quälender Ungewissheit, ein Symbol der Unbeugsamkeit und der Hoffnung. Für viele mag es aussehen, als würden die Tuareg in ihrem Kampf auf verlorenem Posten stehen und hätten keine Chance gegen diejenigen, die ihnen eine extrem rigide Auslegung des islamischen Rechts aufzwingen wollen oder die darauf lauern, die Schätze auszubeuten, die unter dem für die Tuareg heiligen Sand verborgen liegen. Musikalben wie "Kidal" und Bands wie Tamikrest senden aber das Signal aus: Wir lassen uns nicht unterkriegen.
Die anrührende und wunderschöne Musik von "Kidal" macht nicht nur Lust, sich zu den Rhythmen zu bewegen. Sie lässt uns zugleich innehalten, und in uns steigen Bilder der Welt auf, aus der diese Klänge kommen. Ag Mossa sagt: "Die meisten der Songs habe ich geschrieben, als ich in der Wüste war ... wenn du von der Situation dort sprechen willst, musst du sie auch wirklich leben."
Unmittelbar erleben können wir die Situation zwar nicht, im Hören aber durchaus etwas davon nachempfinden.
Richard Marcus
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Christoph Trunk