"An der Grenze"
Michael Warschawski ist ein Grenzgänger. Geboren 1949 als Sohn eines Oberrabbiners in Straßburg, zieht er mit 16 Jahren nach Jerusalem, um seine Talmudstudien zu vertiefen. Auch Jerusalem war 1965 eine Grenzstadt, vom israelischen Kernland aus nur durch einen Korridor erreichbar.
Hier erlebt Warschawski im Juni 1967 den Sechstagekrieg und besucht kurz darauf die von der Armee eroberten Gebiete - zum Beispiel Hebron. "Voller Stolz, Israeli zu sein, führte ich eine Gruppe von Elsässern durch eine fremde Stadt, in der ich mich nicht nur zu Hause, sondern tatsächlich als Eigentümer fühlte. Plötzlich sehe ich den ergebenen, gedemütigten Blick des arabischen Händlers (...). Und wie ein Schlag ins Gesicht trifft mich die Erkenntnis, dass diesmal er der Unterdrückte ist und ich auf der anderen Seite der Grenze stehe, auf der Seite der Starken, der Macht."
Grenze als Lebensthema
Michael Warschawski verweigert den inneren Grenzübertritt. Der Antifaschist mit der fast körperlichen Abneigung gegen jede Form von Rassismus will nicht zu den Unterdrückern gehören. Stattdessen macht er die Grenze zu seinem Lebensthema, um die Trennung zwischen Israelis und Palästinensern zu durchbrechen.
Er tut das als "grenzenloser Sozialist" in einer kleinen Gruppe linksradikaler Aktivisten, der Mazpen. 1982 weigern er und andere Reservesoldaten sich, in den Libanonkrieg zu ziehen; ihr Motto: Yesh Gvul, "Es gibt eine Grenze". 1984 baut er das Alternative Information Center mit auf, das seitdem auf arabisch über Israel, auf hebräisch über die palästinensische Wirklichkeit informiert.
Seit 1992 gehört er zum Friedensblock Gush Shalom. Dabei versucht er, seine eigene Identität als (mittlerweile atheistischer) Jude abzusetzen gegen den Zionismus, der für ihn eine kolonialistische Ideologie ist.
Kritik am "Ghetto"
Zu den großen Stärken des Buches von Michael Warschawski gehört seine Fähigkeit, sich beständig um die Perspektive des anderen zu bemühen, ebenso wie sein authentischer Antirassismus. Zu den Schwächen gehört, dass er die palästinensische Seite nicht kritisiert - nicht ihre tägliche Politik und auch nicht ihr Streben nach einem Nationalstaat -, während er gleichzeitig den zionistischen Nationalstaat attackiert. Warschawski rechtfertigt das damit, dass es ihm als Israeli nicht zustehe, die Palästinenser zu kritisieren. Eine Leerstelle bleibt trotzdem.
Die israelische Politik hingegen urteilt er scharf ab - vor allem die Mauer, mit der die Regierung die Menschen in der Westbank und im Gazastreifen einsperrt. Er nennt es eine "Ironie der Geschichte: Der Zionismus, der die Mauern des Ghettos einreißen wollte, hat das größte Ghetto der jüdischen Geschichte hervorgebracht, ein waffenstarrendes Ghetto, zwar imstande, sein Territorium ständig auszuweiten, aber dennoch ein Ghetto, auf sich selbst beschränkt und überzeugt, außerhalb seiner Mauern herrsche der Dschungel, (...)."
Plädoyer für eine Grenz-Identität
Zu den Grenzen, die Warschawski seit 35 Jahren thematisiert, gehören auch die innerhalb der israelischen Gesellschaft: die zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen europäischen und orientalischen Juden. Die modernen israelischen Zionisten, so sein Vorwurf, haben das Erbe der traditionellen Diaspora-Juden immer verachtet - aber gerade aus der Vielfalt dieser Traditionen schöpft er Hoffnung.
"Wenn er sich dieses Erbe wieder aneignete", plädiert Michael Warschawski leidenschaftlich, dann "könnte der Israeli von morgen eine Grenz-Identität herausbilden, in der sich Warschau und Casablanca, Aleppo und Berlin mischen, eine Damaskus und Alexandria zugewandte Identität, weltoffen und für Abweichungen zugänglich."
Beate Hinrichs
© Qantara.de 2004
Michael Warschawski: An der Grenze.
Vorwort von Moshe Zuckermann.
Hamburg: Edition Nautilus, März 2004.
256 Seiten, 25 S/W-Photos, 19,90 Euro
Leseprobe aus "An der Grenze"
The Alternative Information Center