Unsere Lieben
Wenn man sie heute sieht, ist es schwer vorstellbar, dass Reem Al Farangi auch ganz andere Zeiten hatte. Zeiten, in denen sie völlig verzweifelt war. Strahlend und voller Optimismus bittet die 38-jährige Palästinenserin in ihr Büro in der Innenstadt von Amman und stellt ihr Projekt vor.
Aus persönlicher Betroffenheit hat sie die Website "Habaybna" (dt.: "Unsere Lieben") entwickelt, die erste digitale Plattform für Eltern behinderter Kinder in arabischer Sprache. 2017 ging Habaybna ans Netz und bietet seither wichtige Informationen über Früherkennung und Therapien, Förderung, Selbsthilfe, Bewusstseinsbildung und den Alltag mit behinderten Kindern.
Von Aufmerksamkeitsstörung bis Down-Syndrom, von Lernschwierigkeiten bis Zerebralparese deckt die Website ein breites Spektrum an Behinderungen ab. Rund tausend Kurzvideos bieten wertvolle Anregungen in leicht verständlicher Sprache. 400.000 Mal wurden sie bisher angeklickt. Das Bedürfnis nach verlässlichem Wissen ist groß in einer Region, in der die therapeutische Versorgung von Behinderten noch nicht flächendeckend gewährleistet ist.
Reem schenkt Tee ein und erzählt, wie die Idee entstanden ist. Habaybna ist ein Ergebnis schmerzlicher Erfahrungen, die sie und ihr Mann Mohammed, 40, machen mussten. Beide stammen aus Gaza, jenem schmalen Streifen Land zwischen Israel, Ägypten und Mittelmeer, der immer wieder von militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas heimgesucht wird.
Inmitten des Bombenhagels
In Gaza erhielten sie nach einer langen Odyssee die Gewissheit, dass ihre beiden Söhne Amro und Aboud, damals vier und sechs Jahre alt, unter einer autistischen Störung leiden.
Lange hatte das Paar geglaubt, die Kinder hätten wegen des Krieges Schwierigkeiten beim Sprechen und mit ihrem Sozialverhalten. Ende 2008 und Anfang 2009 gab es in Gaza wieder einmal israelische Bomben als Antwort auf Raketenangriffe der islamistischen Hamas.
Familie Al Farangi harrte damals in ihrer Wohnung aus, während um sie herum die Bomben fielen. Die Kinder waren danach wie versteinert, erinnert sich Reem. Der Jüngere sprach kein Wort mehr. Als der Arzt ihnen dann endlich nach viel Hin und Her 2011 die Diagnose stellte, "da war ich geschockt und vollkommen ratlos".
Wie ein dunkler Tunnel
Therapiemöglichkeiten gab es in Gaza nicht. "Ich war gerade dabei, ein Fotostudio für Frauen aufzubauen." Es habe sie wie ein Schlag getroffen, sagt sie. "Damals dachte ich, mein Leben wäre vorbei und meine Kinder hätten keine Chance, sich jemals zu entwickeln." Die Welt sah aus wie ein dunkler Tunnel, aus dem sie nie wiederauftauchen würde. Hinzu kam, dass das Umfeld abweisend auf ihre Kinder reagierte.
Der Kindergarten weigerte sich nach der Diagnose, die beiden weiterhin aufzunehmen. Nachbarn wandten den Blick ab und hinderten ihre Kinder daran, mit Aboud und Amro zu spielen. "Scham und Stigmatisierung von Behinderten gibt es auch heute noch bei uns", meint Reem. Viele Familien würden unter der Belastung zerbrechen.
Waren es früher vor allem Väter, die die Familien verließen, würden neuerdings auch Mütter gehen. Es gebe auch noch Fälle, in denen Behinderte weggesperrt oder festgebunden würden. Reem und ihr Mann Mohammed suchten in ihrer Verzweiflung im Internet nach Informationen, fanden aber nichts, was auf ihre Situation im Nahen Osten zugeschnitten war.
Im Jahr 2011 konnte die Familie nach Amman, der Hauptstadt Jordaniens, ziehen, um die Kinder dort behandeln zu lassen. Als Palästinenser bekamen sie eine Aufenthaltsgenehmigung. In Jordanien ist die Gesundheitsversorgung vergleichsweise gut, viele Menschen kommen zur medizinischen Versorgung aus anderen arabischen Ländern dorthin. "Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland".
Ihre Kinder kamen in einer Schule für Behinderte unter, in der sie sich wohl fühlen und gezielt gefördert werden. Reem fand eine Elterngruppe an der Schule. "Der Austausch mit den anderen Eltern war ungeheuer hilfreich für mich", betont sie. "Sie sind bis heute mein Netzwerk".
Ein Netzwerk hätte ihr in Gaza viel Kummer erspart. So war die Idee geboren, Eltern in der Region zu vernetzen und ihnen Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie sonst häufig nicht erhalten. Sie dachte dabei vor allem an krisenhafte Regionen wie Gaza, Libyen, Jemen, Syrien aber auch ländliche Gebiete in Ägypten oder Jordanien, in denen Eltern von Kindern mit Behinderung nur wenig Hilfe erwarten können. Sie taufte das Projekt "Habaybna", um schon mit dem Namen "Unsere Lieben" zu signalisieren, dass die Kinder so, wie sie sind, geliebt werden.
Im November 2017 gewann sie für ihr Projekt einen Preis der "Bank Etihad" in Jordanien. Mit dem Preisgeld konnte sie das Büro anmieten, die Website ausbauen und zwei Mitarbeiter einstellen. Wie man ein Start-up aufbaut, hatte sie bei ihrem Betriebswirtschaftsstudium an der Gaza Universität gelernt. Videos dreht sie selbst unter einfachen Bedingungen.
Positive Resonanz
Die Experten, Eltern, Therapeuten, die in den Videos zu Wort kommen, machen ohne Honorar mit. "Wir mieten das Studio und drehen dann von morgens bis abends ohne Pause." Ihr Mann unterstützt sie und ist vor allem für die technische Seite des Unternehmens zuständig. Inzwischen macht Reem auch Trainings für eine jordanische Telekommunikationsgesellschaft, die ihre Mitarbeiter im Umgang mit Behinderung schulen will. So ist die Finanzierung von "Habaybna" erst einmal gesichert. Auch Unicef will mit ihr zusammenarbeiten.
Die Resonanz ist gewaltig. "Ich bekomme sehr viele positive Rückmeldungen von Eltern aus der ganzen Region", freut sich Reem und der Stolz ist ihr anzusehen. Vor Kurzem erst habe ihr eine Mutter aus Ägypten geschrieben, deren dreijährige Tochter am seltenen Angelman-Syndrom (einer Behinderung mit Hyperaktivität und kognitiven Einschränkungen) leidet. Die Frau bat sie um Hilfe, weil sie sich alleingelassen fühlte. Reem konnte die besorgte Mutter mit einer Jordanierin verbinden, deren Kind die gleiche Behinderung hat. "Beide waren froh und glücklich über den Austausch".
Gewachsenes Netzwerk
Es ist dieser Austausch untereinander, der für die Eltern ungeheuer entlastend ist. Er hoffe, dass es in ein paar Jahren ein großes Netzwerk von Eltern in der ganz arabischsprachigen Welt gebe, schreibt der dankbare Vater eines Jungen mit Autismus auf der Website. "'Habaybna' hat mich mit verlässlichen Informationen versorgt, die mir helfen, mit den verschiedenen Phasen unseres Familienlebens zurecht zu kommen."
"Habaybna" kann nicht jedem Fall helfen. Die Website kann weder den Arzt ersetzen noch über alle selten vorkommenden Behinderungen umfassend informieren. Aber sie kann Menschen vernetzen, die in schwierigen Lebenssituationen stecken, ihnen Anleitung zur Selbsthilfe und damit auch neue Hoffnung geben. Ende Oktober 2018 hat "Habaybna" dazu noch ein weiteres Instrument ergänzt. Beim kostenlosen Telecoaching können Eltern Spezialisten befragen, die ihre Expertise ehrenamtlich weitergeben.
"Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl auf dieser langen Reise mit meinem Sohn nicht allein zu sein", sagt Zeinah Zawahneh, Mutter eines Jungen mit Zerebralparese, nach dem Gespräch mit einem Spezialisten. "Ich bekam so viele Tipps, wie ich die täglichen Herausforderungen im Leben mit meinem Sohn bewältigen kann. Jetzt bin ich viel zuversichtlicher."
Bemühen um inklusive Haltung
Über allem steht das Bemühen um eine inklusive Haltung, um mehr Akzeptanz für Menschen mit Behinderung. Bei "Habayna" stehen nicht die Defizite der Kinder im Mittelpunkt, sondern ihre individuellen Möglichkeiten.
Trotzdem bleiben heikle Fragen, die sich Reem nicht anzuschneiden traut. Bei diesem Thema rutscht sie etwas nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Als Palästinenserin aus Gaza, die in Jordanien nur eine Aufenthaltsgenehmigung hat, muss sie vorsichtig sein. So finden sich auf der Website keine Videos, die das Thema Gewalt in der Familie oder Gewalt gegen Behinderte explizit ansprechen.
Beides gäbe es natürlich, sagt sie und nennt das Beispiel einer Frau mit Down-Syndrom, die erst vor ein paar Tagen am helllichten Tag mitten in der Stadt vergewaltigt worden sei. Die jordanische Gesellschaft fange erst an, solche Themen öffentlich zu diskutieren. Aber für sie als Außenstehende, die in Amman zu Gast ist, wäre es schwierig, solche Themen offen anzusprechen.
"Wir sprechen das Thema deshalb lieber positiv an, indem wir für einen liebvollen Umgang mit den Kindern plädieren", meint sie und ist sich der Grenzen ihres Projektes durchaus bewusst. Es bleibt noch viel zu tun.
Amron und Abdel Samia sind inzwischen zwölf bzw. 14 Jahre alt. Sie haben ihre eigenen Interessen und Hobbies entwickelt. Während der Jüngere gerne kocht und alles liebt, was mit Textilien zu tun hat, interessiert sich sein großer Bruder mehr für Computer. Die Behinderung wird kein Hindernis für ein eigenes Leben darstellen. Davon sind Reem und Mohammed heute überzeugt.
Claudia Mende
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