Erdogan bleibt auf Europakurs

Nach der Parlamentswahl in der Türkei bleibt das europäische Modell für Ministerpräsident Erdogan weiterhin der Maßstab, auch wenn einige Stolpersteine, wie der Zypern-Konflikt, noch zu überwinden sind. Von Susanne Güsten

Nach der Parlamentswahl richtet Ankara den Blick wieder auf Brüssel. Für Ministerpräsident Erdogan ist das europäische Modell weiterhin der Maßstab. Einige Stolpersteine, wie der Zypern-Konflikt, stellen sich dem Ziel in den Weg. Ein Bericht von Susanne Güsten

Die Parlamentswahl ist vorbei, die Realpolitik kehrt zurück. Nach seinem Sieg bei den Parlamentswahlen vom 22. Juli wird sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in den kommenden Monaten wieder verstärkt einem Thema widmen, das in jüngster Zeit in Ankara nur eine Nebenrolle spielte: der Europapolitik.

Dabei wird Erdogan nicht so sehr von einer EU-Euphorie getrieben – die ist dem Premier und vielen seiner Landsleute in den vergangenen Jahren ohnehin abhanden gekommen. Wichtig ist Europa für Erdogan vor allem als Impulsgeber für wirtschaftliche, soziale und demokratische Reformen in seinem Land.

Der Ministerpräsident will das Pro-Kopf-Einkommen seiner Bürger in den nächsten Jahren auf 10.000 Dollar im Jahr verdoppeln und den Lebensstandard der Türken auf das Niveau eines modernen Industriestaates heben. Als Maßstab dafür kennt die Türkei nach wie vor nur ein Modell: Europa.

"Ankaraner und Istanbuler Kriterien"

Die strategische Ausrichtung auf Europa in der neuen türkischen Legislaturperiode ist deshalb nicht mit einem bedingungslosen Streben nach EU-Mitgliedschaft gleichzusetzen.

Sollten die Europäer den Türken die Tür vor der Nase zuschlagen, dann werde seine Regierung die – politischen – Kopenhagener Kriterien zu "Ankaraner Kriterien" und die – wirtschaftlichen – Maastricht-Kriterien zu "Istanbuler Kriterien" umdeklarieren, hat Erdogan mehr als einmal angekündigt: "Wir gehen unseren Weg weiter."

Schon im Frühjahr hatte Erdogans Regierung ein Reformprogramm präsentiert, mit dessen Hilfe die Türkei innerhalb von sieben Jahren auf EU-Niveau kommen will. Das Programm beschäftigt sich weniger mit den aus europäischer Sicht großen Fragen wie Zypern, Menschenrechte oder Meinungsfreiheit, sondern vor allem mit Verbesserungen für den türkischen Alltag.

Reformen von Energiesparmaßnahmen über einen besseren Verbaucherschutz und eine bessere Lebensmittelhygiene bis hin zu einem verbesserten Schutz von Kindern vor Gewalt werden in dem Programm angepeilt.

Zustimmung zum EU-Beitritt schwindet

Diese Betonung der praktischen Folgen europapolitischer Reformen ermöglichte es Erdogans AK-Partei, trotz weit verbreiteter EU-Skepsis im Wahlkampf für das Ziel Europa zu werben. Weil die Zustimmung zum EU-Beitritt in der Türkei mittlerweile auf etwa 50 Prozent gesunken ist, muss die AK-Partei dieses Thema vorsichtig angehen.

Doch anders als andere Parteien, die offen europafeindlich auftraten, wies Erdogan immerhin auf den Nutzen europapolitischer Erfolge für die Türkei selbst hin. Fast 47 Prozent der türkischen Wähler segneten diesen Kurs Erdogans bei der Parlamentswahl am 22. Juli ab und stimmten für die AK-Partei.

Noch in der Wahlnacht versprach Erdogan eine Fortsetzung seiner Reformpolitik, die ihm in den vergangenen Jahren in Brüssel viel Anerkennung gebracht hatte. Die EU kritisiert zwar, der Reformschwung in Ankara sei in letzter Zeit erlahmt, doch für wahltaktische Rücksichtnahmen haben die europäischen Politiker, die sich selbst ihren Wähler stellen müssen, ein gewisses Verständnis.

Hindernis Frankreich

So haben Türken und Europäer diskret und ohne viel Aufhebens damit begonnen, ihre Kontakte wieder aufzunehmen. Sogar zwischen der Türkei und Frankreich, wo seit Mai der Türkei-Skeptiker Nicolas Sarkozy regiert, gibt es wieder Bewegung.

Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gül in Brüssel, Foto: AP
Viele Stolpersteine legen sich ihm während seines Kurses in die EU in den Weg: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (r).

​​Erdogan und Sarkozy haben mehrmals miteinander telefoniert und wollen ihre Kontakte auch bald persönlich fortsetzen. Noch vor dem EU-Gipfel im Dezember, bei dem Sarkozy grundsätzlich über die türkische EU-Bewerbung sprechen will, wird Erdogan zu Gesprächen in Paris erwartet.

Frankreich ist aber nicht der einzige Stolperstein für die Türken auf dem Weg in die EU. Wegen des Streits um Zypern liegen die türkischen Beitrittsgespräche seit dem letzten Winter teilweise auf Eis.

Nach wie vor weigert sich die Türkei, ihre Häfen für Schiffe aus der zur EU gehörenden griechischen Republik Zypern zu öffnen, solange die EU ihr Handelsembargo gegen den türkischen Inselteil nicht lockert. Zudem steht neuer Krach ins Haus: Die griechischen Zyprer wollen in den Gewässern um die Insel nach Erdöl suchen lassen, was nach türkischem Verständnis nicht ohne Zustimmung der türkischen Zyprer geht.

Vorschläge zum Zypern-Konflikt

Von europäischen Diplomaten in Ankara ist zu hören, dass Erdogans Regierung hinter verschlossenen Türen an neuen Vorschlägen arbeitet, um den Zypern-Konflikt zumindest zu entschärfen. Mehr dürfte auf kurze Sicht auch nicht erreichbar sein.

Ein neuer Anlauf für eine umfassende Lösung des Konflikts, der 1974 mit einem griechischen Putsch in Nikosia und einer anschließenden türkischen Militärintervention begann, ist frühestens nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im griechischen Teil der Insel im kommenden Frühjahr zu erwarten.

Beim Zypern-Konflikt wie bei anderen neuralgischen Punkten ihrer Europa-Bewerbung ist es für die Türkei wichtig, möglichst bald guten Willen zu zeigen: Im Herbst steht ein neuer Fortschrittsbericht der EU zur Türkei an, der für Brüssel als Grundlage für die weitere Bewertung der türkischen Kandidatur dienen wird.

Um rechtzeitig vor dem Bericht noch Punkte sammeln zu können, hat die neue Erdogan-Regierung mehrere Möglichkeiten. So könnte sie den von der EU scharf kritisierten Strafrechtsparagrafen 301, der die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe stellt, abschaffen oder zumindest abändern.

Auch die nach der Wahl begonnene Debatte in Ankara über eine neue Verfassung für die Türkei könnte der türkischen EU-Bewerbung nutzen.

Schließlich geht es Erdogans Regierung bei dem Projekt darum, die noch aus den Zeiten des letzten Militärputsches von 1980 stammende Verfassung durch ein "ziviles" Grundgesetz zu ersetzen. Der Widerstand der Armee und politischer Reformgegner ist absehbar – da kann Erdogan die Unterstützung Europas gut gebrauchen.

Susanne Güsten

© Qantara.de 2007

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