Realismus an unwirklichen Orten

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Der Film Atash des palästinensischen Jungregisseurs Tawfik Abu Wael handelt von einer Familie, die seit zehn Jahren im Niemandsland auf einem früheren israelischen Militärstützpunkt lebt.

Von Ingrid Arnold

​​Ein glühender Holzkohlenmeiler hat Feuer gefangen. Der Brand ist noch nicht ganz gelöscht, als der Vater das wackelige Gerüst des Wasserreservoirs auf dem staubigen Gelände niederreißt: "Ich will Leitungswasser, wie alle!"

Der Sohn läuft wütend davon, die Mutter und die beiden erwachsenen Töchter verharren resigniert in der Geistersiedlung irgendwo im Niemandsland. Sie scheinen solche Ausbrüche gewohnt zu sein, doch die Forderung des Vaters nach einer Wasserleitung unterstützen sie nicht: "Wir könnten uns von dem Geld ein Haus mieten", beschwört ihn die Mutter.

Exil ins Nirgendwo

Diese erste Szene von "Atash" legt viele Konflikte offen – doch das große Geheimnis, das die Familie zusammenschweißt, lüftet sich erst nach und nach. Die fünf leben nicht freiwillig unter diesen entbehrungsreichen Bedingungen. Eine Wasserleitung zu legen, könnte bedeuten, sich an diesem kargen Ort für immer einzurichten.

Vor zehn Jahren entschied der Vater, hierher zu ziehen, um das Leben der ältesten Tochter zu retten. Unter dem gesellschaftlichen Druck der Dorfgemeinschaft hätte der Vater die "Hure" Gamila töten müssen, um die Familienehre wiederherzustellen. Jetzt sichert der Verkauf von Kohle aus gestohlenem Holz ein Überleben, doch die Frauen verlassen nie das kleine Tal.

Mit der Wasserleitung setzt der Patriarch mehr Veränderung in Gang, als ihm lieb sein konnte. Die jüngere Tochter wagt den offenen Müßiggang, und Gamila löst sich zwar langsamer, aber umso nachhaltiger aus ihrer Isolation.

Auch der Sohn, der gegen den väterlichen Willen die Schule im Dorf besucht, verweigert sich zunehmend der Autorität. Der Vater, seit Jahren davon gequält, vier geliebte Menschen unglücklich zu machen, droht seine Souveränität zu verlieren.

So schürt er die Angst vor der Außenwelt, etwa vor einer Sabotage durch die "jüdische Landverwaltung". Tag und Nacht wird deshalb die Pipeline am Hang bewacht. Diese Aufgabe übernimmt der Sohn auch während einer vermeintlichen Abwesenheit des Vaters ...

Leben unter Beobachtung

"Atash" erzählt eine zeitlose Tragödie. Dass die Familie in Israel lebt und dass sie Palästinenser sind, wird nur nebenbei thematisiert, und doch spielt es eine Rolle. Der Zustand permanenter Angst und Einschränkung wird durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse hervorgerufen und gefestigt. Das trifft auch innerhalb des Familienlebens zu.

Die Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel ist sicher nicht ohne Einfluss auf das soziale Zusammenleben der Palästinenser, auch in anderen Teilen des Landes. Sie mag die traditionelle Haltung der Dorfbewohner sogar verstärken. Die parabelhafte Erzählung jedenfalls macht die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft zu einer Metapher für ein ganzes Volk.

Dass die Geschichte an einem so kargen Ort spielt, war hingegen nicht einer möglichst realistischen Darstellung arabischen Lebens geschuldet, sondern vielmehr eine wirkungsvolle ästhetische Entscheidung. Die Orientierung zwischen den wenigen Bauten verhindern abwechselnde Cinemascope-Totalen, ungewöhnliche Perspektiven und Bildausschnitte und erzeugen so eine ständige Verunsicherung.

Der freie Blick wird verstellt, man fühlt sich mit den Protagonisten eingesperrt und beobachtet. Doch das Gefühl der Unwirklichkeit entsteht nicht nur durch die gewählten Kameraperspektiven: Drehort von "Atash" war eine Dorf-Attrappe in der Nähe von Um El-Fahem, der Heimatstadt des Regisseurs Tawfik Abu Wael, und diente einst der israelischen Armee als Truppenübungsgelände.

Allgegenwärtiger Konflikt

Um El-Fahem heißt "Mutter der Kohle" und ist die zweitgrößte arabische Stadt Israels, nicht weit von der Grenze zu den besetzten Gebieten gelegen. Das Sammeln von Holz, um daraus Kohle herzustellen, gehört zu den traditionellen Einkommensquellen in dieser Gegend. In den letzten Jahren haben Islamisten hier an Einfluss gewonnen, was vermehrt zu Konflikten mit israelischen Sicherheitskräften führt.

Der 1976 geborene Abu Wael, der an der Universität in Tel Aviv Filmregie studierte, zählt sich selbst zur so genannten "Neuen Generation" palästinensischer Künstler, die sich ihre Themen nicht mehr durch den Zustand der Besatzung vorgeben lassen wollen.

Das trug paradoxerweise dazu bei, dass Abu Wael seinen ersten langen Spielfilm nur mit Mühe finanzieren konnte. Denn von einem palästinensischen Film erwarten europäische Förderungen offensichtlich, dass er den Konflikt mit der israelischen Besatzung deutlich thematisiert, Soldaten oder Grenzzäune zeigt.

"Atash" zeigt stattdessen eine Gesellschaft, die in ihren patriarchalen Traditionen gefangen ist, in der sprachlose Gewalt herrscht und in der es kaum Bewegung oder Veränderung zu geben scheint.

Abu Wael zeigt, was er selbst sehr gut kennt. Als Darsteller hat der Regisseur Laien gecastet, die ebenfalls aus derselben Gegend kommen. Doch alles, was der Film nicht zeigt, ist dennoch präsent. Auch in dieser Hinsicht ist diese konzentrierte Filmerzählung eine Metapher für die Realität.

Ingrid Arnold

© Fluter.de 2005

(Atash) Israel, Palästina 2004, Buch und Regie: Tawfik Abu Wael, mit Hussein Yassin Mahajne, Amal Bweerat, Roba Blal, Jamila Abu Hussein, Ahamad Abed El Gani