Gastarbeiter-Türken vs. Braindrain-Türken
"Einen Cappuccino und einen Ingwertee, bitte." Fatih hat Feierabend. Mit Hundewelpe Lola, dem neuen Familienmitglied, sucht der 35-jährige Mann mit Glatze Zuflucht vor dem winterlichen Berliner Nieselregen in einem Café. Seit etwas über vier Jahren ist der Elektroingenieur überzeugter Berliner. Davor lebte er in Ankara. Bis er und seine Frau den Entschluss fassten: Wir wandern aus.
Fatih ist Teil der "Braindrain"-Bewegung, die die Türkei seit dem verhinderten Putschversuch im Juli 2016 erfasst hat. Eine Generation gut ausgebildeter Akademiker und Unternehmer, für die die Welt attraktiver ist als die Türkei, und die gehen, weil sie es können. Nach England, Frankreich, Spanien und nach Deutschland.
Seine Arbeit zuhause sei gut gewesen, "White collar", wie er betont. Direkte Einschränkungen durch die Behörden habe er nicht erfahren. Doch der unterschwellige Druck der gegenwärtigen Politik raubten vielen die Nerven, erzählt er.
Vom Rest der Gesellschaft gespalten
"Was mich in Ankara bedrückte – und das ist nicht nur die politische Führung, sondern auch wir als Volk tragen da unsere Verantwortung – ist, dass wir so abgespalten waren vom Rest der Gesellschaft. Die Orte, zu denen ich als Student ging, haben sich verändert. Also drängten wir 'White-Collars' uns in dieselben Cafés, Bars, Straßen. Hier sind immer dieselben Menschen, dieselben Getränke. Das hat mich irgendwann ausgelaugt", erzählt er. An Berlin schätze er die Freiheit, die unterschiedlichen Menschen, die Parks.
In Berlin ist Fatih einer der sogenannten "New Wave-Türken": die neue Welle, die in die Hauptstädte Europas ausgeschwirrt ist, die mit Englisch über die Runden kommen und mit der "ersten Welle", den sogenannten Gastarbeitern, nichts gemein haben will.
Fatih hat Cousins in Berlin – sogenannte "Deutschländer" ("Almancı"), wie die Deutsch-Türken in der Türkei teils herablassend genannt werden. Mit ihnen käme es regelmäßig zu Diskussionen. "Sie erzählen immer wieder wie toll die Türkei ist und dass sie dorthin ziehen möchten. Ich versuche ihnen zu erklären, dass alles ganz anders aussieht, wenn man dort arbeitet und tiefer in die Gesellschaft eindringt."
Und dann fügt er hinzu: "Ihnen gefällt, dass durch Erdoğan die Deutschen erstmals die Türken ernst nehmen. Doch die Auswirkungen spüren nicht sie, sondern die Menschen in der Türkei."
Für Fatih ist dieser Grabe, der sich zwischen den beiden Gruppen auftut, nur ein Symptom. "Die Gesellschaft in der Türkei ist extrem gespalten. Die beiden Fraktionen verstehen einander nicht und haben keinen Respekt für den Lebensstil des anderen." Die Politik habe die Gesellschaft polarisiert. Wie sich das Problem lösen lasse, weiß er nicht.
In einer Bar im obersten Stock eines Hotels sitzt Handan Karataş mit einem Martini in der Hand und lässt ihren Blick über den Kurfürstendamm schweifen. Als Tochter von sogenannten "Gastarbeitereltern" gehört die gestylte Frau mit langen Haaren zu denen, für die die Türkei die eigentliche Heimat und immer einen Traum entfernt war.
"In Deutschland erlebte ich häufig Rassismus. Vielleicht hat meine Sehnsucht nach Istanbul auch deswegen zugenommen", erzählt sie. Nach dem Studium erfüllte sie sich einen Traum und zog für einige Jahre nach Istanbul. Doch auch von türkischer Seite erfuhr sie Diskriminierung. "Es gibt dieses Bild vom sogenannten 'Deutschländer' – dem ungebildeten, neureichen Provinzler, der das Geld auf der Straße aufsammelt."
Wenn Antipathie in Hass umschlägt
Heute lebt Handan wieder in Berlin. In den vergangenen Jahren, erzählt sie, sei die Antipathie der "Türkei-Türken" gegen die sogenannten "Almancı" in regelrechten Hass umgeschlagen. Aus der Türkei hieße es: "Ihr wählt die AKP, seid aber weit weg und kriegt nichts mit!"
"Ich beobachte, dass die 'Neue-Welle-Türken' versuchen, der Welt zu zeigen: Wir sind besser als die anderen Türken." Dass sie die Errungenschaften ihrer Elterngeneration verachten, macht sie zornig und traurig. "Die Menschen kamen damals unter sehr schweren Bedingungen hierher. Und heute setzen sich die Leute ins gemachte Nest und verachten diejenigen, die sich hier alles aufgebaut haben."
Und die Lösung des Problems? "Wir müssen uns an einen Tisch setzen und miteinander reden. Denn Vorurteile resultieren aus Unwissenheit", findet sie.
Einer, der sich ebenfalls an den gegenseitigen Ressentiments seiner Landsleute stört, ist der türkischsprachige Berliner Comedian Şafak Salda. Kürzlich hat er eben dieses Problem in einer seiner Nummern integriert. Die Vorbehalte der "neuen Türken" kennt der Mann mit freundlichem Gesicht nur zu gut. "Als ich nach zum Studium nach Deutschland kam, dachte ich nicht anders, muss ich zugeben." Doch mit den Jahren habe er gemerkt, wie falsch er lag.
"Seit Jahrzehnten unterstützen die Menschen hier finanziell ihre Verwandten in der Türkei. Alleine 2018 flossen 800 Millionen Euro aus Deutschland in die Türkei. Außerdem geben die Deutsch-Türken im Urlaub in der Türkei mehr aus als alle anderen Touristen. Man kann nicht von diesen Leuten profitieren und sie gleichzeitig verachten."
Generation Kofferbaby
Die Idee, dass die in Deutschland lebenden Türken ein Stimmendepot der AKP darstellen, sei schon allein statistisch gesehen schlichtweg falsch, sagt er. Von den 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Türken habe die AKP gerade einmal 350.000 Stimmen bekommen, ihre Stimmen hätten keine Auswirkungen auf das Wahlergebnis gehabt.
Auch sei das Unwissen über "die anderen" weit verbreitet, so Salda. "Man muss sich einmal angucken, wer damals alles aus Anatolien hierher gekommen ist. Unter ihnen sind zum Beispiel viele Aleviten, die ihre Angehörige bei einem der Anschläge verloren haben. Und dann gibt es noch die sogenannte 'Generation Kofferbaby', Kindern, die zwischen den beiden Ländern alleine hin und her geschickt wurden, weil ihre Eltern vor lauter Arbeit keine Zeit hatten, sich um sie zu kümmern – Kinder, die bei Verwandten aufwuchsen und die bis heute keine Beziehung zu ihren leiblichen Eltern aufbauen können." Und eines, fügt er hinzu, dürfe man ebenfalls nicht vergessen: Früher oder später werde jeder türkischstämmige Bürger in Deutschland zu einem "Deutschländer".
Ceyda Nurtsch
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